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Projekt Babylon

Titel: Projekt Babylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wilhelm
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der andere versteht. Ist die Einsicht des zweiten Mannes weniger wert, weil ihm geholfen wurde? Nein, ist sie nicht. Einsicht ist immer gleich wertvoll, egal, wie sie erlangt wurde.«
    »Du hast Recht, Joseph. Dennoch möchte ich wissen, ob sie alleine zur Einsicht finden.«
    »Worauf Ihr hinauswollt, ist Weisheit, Steffen. Wie wir schon so oft diskutiert haben: Es ist die Weisheit, die Ihr prüfen wollt. Wenn Informationen eigenständig kombiniert und zu Einsicht werden, ist dies Weisheit. Ohne ausreichende Informationen ist dies aber nicht möglich. Wenn wir die Menschen gerecht beurteilen wollen, müssen wir ihnen stets dieselbe Grundlage schaffen.«
    Der bärtige Mann wandte seinen Blick vom See ab und lächelte. »Du wirst immer ein Humanist bleiben! Ich erwarte aber mehr von ihnen als das. Alles Wissen ist immer vorhanden, heute sogar zugänglicher als jemals zuvor. Man muss es sich erarbeiten und darf es sich nicht servieren lassen.«
    »Es ist aber auch wesentlich mehr Wissen als jemals zuvor, und einiges versickert im immer undurchdringlicheren Nebel der Geschichte und dem sich darüber legenden Schleier aus Vergessen und Fehlinterpretationen. Ihr müsst gestehen, dass es immer schwieriger wird, alles zu wissen, und dass die Wahrheiten immer vielfältiger werden.«
    »Es gibt nur eine Wahrheit.«
    »Wahrheit liegt im Auge des Betrachters, Steffen.«
    »Nein, die Wahrheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie allgemeingültig und singular ist.«
    »Singular? Gab es zuerst das Huhn, oder gab es zuerst das Ei? Oder besser noch: Sagt mir, welches die wahrste Religion ist.«
    Der alte Mann schüttelte lachend den Kopf. »Joseph, ich konnte deiner Dialektik noch nie etwas entgegenhalten. Auch wenn es bloße Taschenspielertricks sind.«
    »Heiligt nicht der Zweck manches Mittel? Wenn Ihr mir zustimmt, dass es heute nicht leichter ist, die richtigen Schlüsse zu ziehen als vor Hunderten von Jahren, dann habe ich dies gerne mit Taschenspielertricks erreicht.«
    »Also gut. Nehmen wir an, es ist so: Dann sage mir, was wir deiner Meinung nach tun sollten.«
    »Lasst sie uns noch eine Weile weiter unterstützen. Sie sind kurz davor, alle Karten in der Hand zu halten, und dann werden wir sehen, wie sie sie ausspielen. Natürlich können wir das nur wagen, wenn wir uns des Risikos bewusst sind. Im Zweifelsfall werden wir vehement eingreifen müssen, um unsere Interessen für die Zukunft zu wahren.«
    Der alte Mann sah wieder auf den See hinaus. »Ein Wagnis... aber vielleicht ist dies tatsächlich die richtige Zeit dafür.«

Kapitel 13

    9. Mai, Hôtel de la Grange, St.-Pierre-Du-Bois

    Didier Fauvel hatte sich die Worte den ganzen gestrigen Tag zurechtgelegt. Oder vielmehr hatte er es versucht, doch seine Gedanken waren immer wieder abgeschweift. Er verfluchte sich und seine unbedachte Jugend. Wenn sich nach all diesen Jahren die Vergangenheit wie ein Dämon mit lederhäutigen Flügeln emporschwingen konnte, um über ihm zu thronen und ihn zu befehligen, wie konnte er dann jemals vor ihr in Sicherheit sein? Wie würde er jemals wieder ruhig einschlafen können, ohne fürchten zu müssen, am nächsten Tag im Zuchthaus aufzuwachen? Wie rächte sich alles Übel am Ende, egal, wie lange es scheinbar ungesühnt geblieben war! Hatte der Teufel ihm all die Jahre nur gnädigen Aufschub gewährt, und war dies nun Gottes Gerechtigkeit? Oder war es anders herum?
    Er hatte ihr Gesicht nie vergessen. Wenn er die Augen schloss und seine Gedanken treiben ließ, dann tauchte sie aus dem Dunkel auf. Er hatte sich an den Anblick gewöhnt, und der Cognac gab ihm die Kraft und den Glauben an sich selbst und daran, dass die Geister der Vergangenheit ihm nichts anhaben konnten. Doch letzte Nacht war sie wieder da gewesen, ständig um ihn herum, wohin er auch geblickt hatte. Ihr unschuldiges, junges Gesicht, mit der kleinen Nase und der zarten Haut. Die Mundwinkel nach unten gezogen, die Wangen feucht von Tränen, und die geröteten Augen, die sich entsetzt weiteten, als sie erkannte, dass sie nach der Entwürdigung und den Schmerzen sterben musste, ihr Mund, der sich zu einem lautlosen Schrei öffnete...
    Mehrmals hatte er sich letzte Nacht übergeben, bis nur noch Krämpfe seinen Körper geschüttelt hatten. In einen Morgenmantel gekleidet, im Ledersessel seines Arbeitszimmers versunken, hatte er dem Morgengrauen lethargisch entgegengesehen. Es gab nichts, was er gegen die Vergangenheit tun konnte. Absolut nichts würde irgendetwas ändern.

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