Projekt Babylon
damit zurechtkam.
Er wusste, dass er aus Paris beobachtet wurde. Er hatte eine Schuld zu begleichen, und er würde es tun. Für Paris und für sein eigenes Seelenheil.
Er wandte sich seinem Sessel zu, setzte sich, griff zum Telefon und wählte die Nummer eines Handys.
»Hier ist Didier, hallo... ja, ich bin es... Ja, wir haben lange nicht mehr gesprochen, Paul... hör zu, ich brauche deine Hilfe... Nein, ich kann es dir am Telefon nicht sagen, ist eine größere Sache. Wir müssen uns treffen, am liebsten heute Abend noch... Nun gut, dann morgen. Um fünf. Bei dir, einverstanden. Bis dann.«
Kapitel 15
10. Mai, Hôtel de la Grange, St.-Pierre-Du-Bois
Peter war bereits um sechs aufgestanden, um sein Frühstück im Salon Vert allein einnehmen zu können. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, was ihm in der Gegenwart von Patrick nicht immer möglich war. Der junge Ingenieur war selbstbewusst und sehr begabt. Aber er urteilte vorschnell und hart. Außerdem empfand er dessen Naivität im Umgang mit der Geschichte und seine Respektlosigkeit jeder Art von Religiosität gegenüber zeitweise als äußerst nervtötend.
Peter war es gewohnt, zu beobachten, Informationen zu sammeln, und sie – so irrelevant sie auch zu sein schienen – wie kleine glänzende Perlen in einer großen Schachtel mit Kostbarkeiten aufzubewahren. Dann und wann wagte er einen neuen Blick hinein, nahm bei Bedarf Teile heraus, untersuchte sie, wendete sie und legte sie wieder zurück. Manchmal schüttelte er die Schachtel einfach, und mit etwas Glück ordneten sich die Stücke zu sinnvollen Mustern, offenbarten ihre Zusammenhänge. Er verbrachte viel Zeit damit, Dinge testweise zu kombinieren und die Ergebnisse zu untersuchen. Aber dafür brauchte er Ruhe und niemand, der ihm dauernd dazwischenredete und Fragen über die Sinnhaftigkeit stellte.
Die Sprachwissenschaftlerin Stefanie hatte sich in den letzten Tagen gut eingelebt. Sie hatte ihre fachliche Kompetenz mehr als bestätigt, sich sogar als unentbehrliche Hilfe erwiesen. Sie war zurückhaltend, und trotzdem hatte auch sie eine enervierende Wirkung auf Peter, die er noch nicht richtig einordnen konnte.
Vielleicht lag es daran, dass sie jung war und gut aussah. Es war keinesfalls immer einfach, diesen Aspekt im professionellen Umgang mit ihr auszublenden, was Patrick wiederum offenbar gar nicht erst versuchte. Für andere Leute wäre das möglicherweise Zündstoff für Rivalitäten im Team gewesen, aber aus dem Alter war Peter hinaus. Er respektierte Stefanie fachlich. Und ihre Schönheit genoss er wie ein Kunstliebhaber einen echten Renoir genießen würde. Niemals käme er auf den Gedanken, sie mit seiner privaten Zuneigung allzu offensichtlich zu behelligen.
Aber da war noch etwas an ihr, das über Schönheit im klassischen Sinne hinausging, und das war es auch, was ihm Unbehagen bereitete. Er konnte es schlecht an einem bestimmten Wesenszug festmachen, es war vielmehr eine Summe aus Einzelheiten. Manchmal hatte er das Gefühl, als wisse sie viel mehr, als sie preisgab. Dann fühlte er sich regelrecht beobachtet, als ob er lediglich ihr Schüler wäre. Sie behauptete sich in ihrer Arbeit und in ihrem Umgang mit den beiden Männern so professionell, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Auch schien sie sich ihrer Wirkung auf sie beide durchaus bewusst zu sein, aber ihr Verhalten war einfach souverän. Das war das richtige Wort. Und das war es auch, was ihre Schönheit über einen offensichtlichen weiblichen Liebreiz hinaus erhöhte. Ihre Augen strahlten eine seltsame Reife aus, als habe sie in ihrem Leben bereits so viel Glück und Elend, Schrecken und Wunder gesehen, dass sie zwangsläufig über den Dingen stand. Es waren immer nur winzige Augenblicke, aber dann fühlte er sich in ihrer Gegenwart kleiner. Und dann hatte er stets das unbestimmte Gefühl, dass sie dies zugelassen hatte.
Aus diesem Grund war er an diesem Morgen so früh aufgestanden. Er wollte mit sich und seinen Gedanken alleine sein, mit ihnen spielen, sie drehen, wenden und wenn möglich ordnen.
Er war der erste Gast im Salon Vert. Zwar bot man bereits ab halb sieben Frühstück an, aber es war offensichtlich, dass kaum jemand damit rechnete, dass die Urlauber vor halb acht herunterkamen. Die Tische wurden gerade erst gedeckt, und als Peter seine Bestellung aufgab, bat man ihn um einen Augenblick Geduld, da die Croissants noch im Ofen seien. So saß er eine Weile nur mit einem Kännchen Tee da und sah in den
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