Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
hatte, weil sie doch zu einer Heldin heranwachsen sollte …
… und dann hatte ihr Vater sie gefunden.
»Hier … komme … ich!«
Die Tür wurde aufgerissen, und Joannie schrie und schrie und schrie …
… und die Hand ihres Vaters krallte sich in ihre Schulter, und sie schrie lauter, so laut, dass sie beinahe Iridiums panische Stimme überhört hätte: »Jet! Wach auf! Es ist nur ein Albtraum, Jet. Hör mir zu – es ist ein Albtraum! Joannie, wach auf!«
Jet starrte das Mädchen auf ihrem Bett an wie eine Eule. Blinzelte, als sie die klaren blauen Augen erkannte, das dichte schwarze Haar, den besorgten Gesichtsausdruck. Erkennen machte sich breit, kämpfte sich durch den Nebel ihres Traums. »Iri?«
»Ja.«
Ganz langsam atmete sie aus und wischte sich mit zitternden Händen die Tränen aus den Augen. Nachdem sie einen weiteren unsicheren Atemzug gemacht hatte, bemerkte sie, dass jeder Lichtstreifen im Zimmer leuchtete. »Wo …« Ihr Rachen schmerzte vor Trockenheit. Sie schluckte und versuchte, ihn zu befeuchten, bevor sie weitersprach. »Wo ist meine Schutzbrille?«
Iri bückte sich und hob etwas vom Teppich auf. »Meinst du die hier?« Sie ließ den kaputten Optirahmen an ihrem Finger baumeln. »Sieht so aus, als hättest du sie dir im Schlaf heruntergerissen.«
»Oh.« Jet biss sich auf die Lippe und fühlte, wie ihr das Herz in die Hose rutschte. Wie sollte sie nachts ohne ihre Speziallinsen die Dunkelheit fernhalten?
Iridium legte die Brille auf Jets Nachttisch, gleich neben ihren
Wecker. »Ahm, bis sie repariert ist, kannst du, na ja … kannst du nachts das Licht brennen lassen.« Sie klang, als schwanke sie zwischen Sorge und Verlegenheit.
»Aber …« Jet runzelte die Stirn. »Aber es wird dich beim Schlafen stören. Und es verstößt gegen die Vorschriften.«
»Mach dir um mich keine Sorgen – ich fühle mich wohl bei Licht.« Iridium grinste boshaft. »Und was die Vorschriften betrifft: Was die Proktoren nicht wissen, kann uns nicht schaden.«
»Aber wir würden die Regeln brechen.«
Die Stimme ihres Vaters, rauchig vor Wahnsinn: Du hast die Regeln gebrochen.
Falls Iridium bemerkt hatte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich, so ignorierte sie es. Stattdessen zeigte sie mit dem Finger auf Jet. »Möchtest du im Dunkeln schlafen?«
Jet erschauerte und schlang die Arme um ihren Körper. Ihre Stimme war nur ein Flüstern, als sie sagte: »Nein.«
»Dann lass mich dir einfach diesen Gefallen tun und zick nicht rum deswegen.« Frustriert stieß Iridium den Atem aus. »Meine Güte! Da versuche ich nun, etwas Nettes zu tun, und du haust mir die Vorschriften um die Ohren.«
»Entschuldige.«
Iridium zwinkerte ihr zu, dann seufzte sie. »Nein. Ich bin gemein. Das kann schon mal passieren, wenn meine Mitbewohnerin einen hysterischen Anfall bekommt und meinen Schlaf stört. So. Willst du drüber reden?«
Jet musste wieder an den blutigen, verformten Körper ihrer Mutter denken, an das verrückte Entzücken ihres Vaters. Sie schüttelte den Kopf.
»Gut. In Ordnung.« Iridium stand auf und ging zu ihrem eigenen Bett. »Falls du es dir anders überlegst, weißt du ja, wo ich bin.«
»Danke«, murmelte Jet undeutlich, legte sich auf den Rücken und kuschelte sich in die dicke Daunendecke. »Bist du sicher, dass das so geht mit dem Licht?«
»Himmelherrgott noch mal!«, fauchte Iridium. »Übertreib es nicht. Es ist schon schlimm genug, dass ich nett zu dir bin. Wenn jemand davon erfährt, ist mein Ruf mit Sicherheit ruiniert.«
»Tut mir leid …«
»Mein Gott, Joan! Ich mach doch nur Spaß!«
Jet schauderte. Sie wollte Iri bitten, sie nicht so zu nennen. Es verstieß gegen die Regeln, einen anderen Namen zu verwenden als die offizielle Bezeichnung. Und sie hörte in ihrem Kopf immer noch die Stimme ihres Vaters, die diesen Namen flüsterte. Aber sie hielt den Mund.
»Hör zu«, sagte Iridium. »Als ich noch klein war, hat mein Dad etwas zu mir gesagt. Es hilft mir, wenn ich mal nervös werde.«
Jet drehte sich auf die Seite, um ihre Mitbewohnerin anzusehen. Iri, nervös? Die doch nicht. »Wirklich? Und was?«
»Ein Zitat. Es stammt von einem Präsidenten, der schon lange tot ist. ›Das Einzige, wovor wir Angst haben müssen, ist die Angst selbst.‹«
Was für ein kompletter Schwachsinn. »Und das hilft?«
Iridium zuckte mit den Schultern. »Ja. Es erinnert mich daran, dass etwas, was mich zu Tode ängstigt, auch alle um mich herum ängstigt. Selbst wenn sie es nicht zeigen. Also
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