Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
Eingangshalle überraschte sie nicht wirklich. Um 14 Uhr war Schichtwechsel. Sie hatte noch mehr als genug Zeit, um sich für die dreimal verfluchte Jack Goldwater Show zurechtzumachen.
Während sie auf den Aufzug wartete, ging sie in Gedanken erneut ihr Gespräch mit Meteorite durch. Und noch einmal, während sie in den 29. Stock fuhr. Als sie endlich vor ihrem Apartment stand, fühlte sie sich erschöpft, wie ausgewrungen. Und sie schämte sich ihrer derzeitigen Schwäche.
Ein Held musste immer auf der Hut sein. Vor allem, wenn es sich um ehemalige Freunde handelte.
Beim nächsten Mal, sagte sie zu sich selbst, als sie einen Handschuh abstreifte. Beim nächsten Mal.
Sie bewegte ihre Handfläche vor dem Türsensor hin und her. Ein erkennendes Summen, und die Tür glitt auf. Ihre schweißnasse Hand massierend, trat Jet ein, und langsam erhellte Licht die Räume. Genau hinter der Schwelle verharrte sie für einen Moment, wie immer, und wartete, bis das Licht seine volle Helligkeit erreicht hatte. Dann schlug sie ihre Kapuze zurück und nahm den Umhang ab. Die Lichter würden an sein, solange sie sich hier aufhielt. Sogar, wenn sie schlief.
Jet wusste, was in der Dunkelheit lauerte. Und sie zog es vor, in der Sicherheit ihres Heims keine Begegnung damit zu erleben.
Sie hängte ihren Kapuzenumhang an den Haken neben der Tür. Dann streifte sie den anderen Handschuh ab und legte beide auf das Tischchen, das dort stand. Danach kamen die Stiefel an die Reihe. Sie waren aus dem gleichen Leder gefertigt wie die Handschuhe. Jet zog die Reißverschlüsse auf und zerrte sie von den Füßen, die in Socken steckten. Uuuh, Zeit für ein neues Stiefel-Deo! Oder vielleicht sollte sie die Anti-Schweiß-Einlagen einfach weglassen. Dann könnte sie die Kriminellen, die das Pech hatten, in Windrichtung zu stehen, einfach mit dem Gestank ihrer Füße außer Gefecht setzen.
Ein Lächeln erhellte plötzlich ihr Gesicht. Deckname: Body Odor – Körpergeruch.
Jet stellte die Stiefel ordentlich unter das Tischchen. Dann nahm sie den dicken Gürtel mit den Taschen ab und schwenkte ihn einmal im Kreis, bevor sie ihn auf die Handschuhe legte. Sie stieß einen müden Seufzer aus. Andere Helden mochten sich erleichtert fühlen, wenn sie sich ihrer offiziell geforderten Ausrüstung entledigten. Aber als sie so dastand, mit nichts anderem mehr bekleidet als ihrem hautengen Ganzkörperanzug, von Kopf bis Fuß eingehüllt in Tintenschwarz, fühlte Jet sich nackt. Ausgeliefert.
Sie ließ den Blick durch ihr Wohnzimmer schweifen. Er blieb kurz an dem weich gepolsterten Gleit-Schaukelstuhl hängen, der in einer Ecke stand, eingezwängt zwischen dem Fenster, durch das sie die dunstige Skyline von New Chicago sehen konnte, und ihrem vollgestopften Bücherregal. Sie wusste, es wirkte exzentrisch, aber sie las lieber altmodische Bücher aus echtem Papier als die elektronischen Ausgaben. Das Gefühl, ein richtiges Buch in der Hand zu halten, und der Geruch, den das Papier verströmte, vermittelten ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Die meisten der Bücher, die sich in dem Regal drängelten, waren Liebesromane. Es mochte banal sein, aber Jet liebte Geschichten, die ein Happy End hatten.
Das wirkliche Leben lief selten auf ein gutes Ende hinaus. Sie genoss es, sich in Fantasien vom Glücklichsein zu verlieren, selbst wenn es nur auf den zerfledderten Seiten eines Buches war.
Letzte Nacht hatte sie einen von diesen historischen Romanen vom Anfang des 21. Jahrhunderts gelesen. Die brachten sie immer zum Lachen. Vorausgesetzt natürlich, sie hatte gerade keinen Auftrag. Oder eine weitere Runde im Kampf mit Iridium stand bevor.
Sie tappte hinüber zu ihrem Videofon und zog dabei den Reißverschluss ihres Anzugs auf. Zwei Nachrichten. Sie hatte vergessen, für die Aufzeichnung der Anrufe den Video-Modus einzuschalten, und so musste sie sich mit den Stimmen begnügen. Heiliges Licht, war sie müde!
»Hey, Jet. Hier ist Bruce. Ich freue mich aufs Abendessen nachher.«
Ein warmes Gefühl durchströmte sie, als sie die kurze Nachricht noch einmal abspielte. Keiner der anderen Runner hatte sich je Gedanken darüber gemacht, ob sie nach Hause kam, geschweige denn Nachrichten hinterlassen. Die anderen Runner waren aber auch nicht so sexy gewesen, hatten kein dunkles Haar gehabt und ihr elektrisierende Schauer über die Haut gejagt …
»Hallo, Jet. Wie ich höre, hattest du einen interessanten Tag.«
Die Stimme des zweiten Sprechers bewirkte
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