Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
nicht –«
»Ich hab dir schon einmal gesagt, du sollst mich nicht so nennen.«
»Iridium.« Er sagte nur dieses eine Wort. Sehr leise. Gedämpft durch sein Kostüm.
Sie wandte sich von ihm ab und schob ihn beiseite. Taser folgte ihren stürmischen Schritten in die Teeküche des Lagerhauses, wo sie sich ein Glas Wasser eingoss.
»Als ich sieben Jahre alt war«, begann er, »lebte ich zusammen mit meiner Mutter in einer von diesen beschissenen Sozialwohnungen im Quarantäne-Bezirk von Manhattan. Du weißt schon – bevor sie alles in die Luft gesprengt und neu bebaut haben.« Er blinzelte, und die Gläser seiner Brille irisierten. »Eines Tages tauchte dieser Abtrünnige auf, einer von den Psychotypen. Er nahm alle Bewohner des Blocks als Geiseln … ließ uns Dinge sehen. Entsetzliche Dinge.«
»Doktor Hypnotic«, warf Iridium ein. Die Belagerung von Manhattan war ein Standardthema in der Taktik-Ausbildung bei Corp gewesen.
»Wie auch immer, darum geht es nicht.« Taser seufzte. »Nach fünf Tagen durchbrachen die Helden den Belagerungsring seiner Handlanger. Ihn selbst stellten sie auf dem Dach unseres Wohnblocks.«
Iridium erinnerte sich an die zweidimensionalen Fotos auf ihrem Datenbildschirm – es gab noch keinen 3-D-Druck in ihrer Schulzeit. Eine Ruine, verbranntes, verbogenes Metall. Schreiende Zivilisten. Chaos.
»Es kam zum Kampf zwischen Hypnotic und einem außermenschlichen Muskelprotz«, fuhr Taser mit sanfter Stimme fort. »Unser Block fiel in Schutt und Asche. Meine Mutter und ein paar von meinen Freunden wurden von den Trümmern des Hauses erschlagen. Corp ließ keine Rettungskräfte zu uns und auch keine regulären Cops. Drei Monate später erhielt ich eine Entschuldigung und einen Scheck über 3000 E-Dollar von der New Yorker Abteilung der Schwadron.« Er lachte bitter auf. »Das war alles.«
»Dann haben sie also uns beiden etwas genommen«, sagte Iridium. »Ich für meinen Teil werde es mir zurückholen.«
Taser nickte bedächtig. »Ich bin dabei, darauf kannst du Gift nehmen.«
KAPITEL 27
JET
Während gewisse politische Führer eine ausgeprägte Feindseligkeit gegenüber den Außermenschlichen an den Tag legen, begegnet ihnen die Mehrzahl der religiösen Gemeinden mit vorsichtiger Toleranz. Aber, und das lässt sich mit Sicherheit sagen, nicht mit Ehrfurcht. Religiöse Führer haben sich schließlich einer höheren Macht gegenüber zu verantworten.
Lynda Kidder, »Helden unter uns« New Chicago Tribüne,
5. März 2112
»Danke, David«, sagte Rabbi Cohn und nahm die Tasse Kaffee entgegen, die ihm sein Assistent reichte. »Wenn Jet keinen Wunsch mehr hat, wäre das alles.«
»Nein, vielen Dank«, murmelte Jet, die ihre Tasse bereits in der Hand hielt. »Mir geht es gut.« Dabei ging es ihr gar nicht gut. Ihr schwirrte immer noch der Kopf von dem, was sie auf Lynda Kidders Datenstick gelesen hatte.
David nickte. Dann verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Jet zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und versuchte, so zu tun, als ob sie keine Migräne hätte. Mit geheucheltem Interesse sah sie sich im Büro des Rabbis um. Der kleine Raum war vollgestopft mit wuchtigen Möbeln. Hinter dem massigen Schreibtisch stand ein großer Ledersessel. Einige Plüschsessel umringten ein rundes Kaffeetischchen. Und dort saßen sie jetzt. Die Wände waren in düsteren Farben gehalten, von denen sich hier und da ein besinnliches Gemälde abhob. Was ihre Aufmerksamkeit aber wirklich fesselte, war das wackelige Bücherregal, das aus allen Nähten platzte. Sie und der Rabbi schienen eine Leidenshaft für altmodische Bücher zu teilen. Wäre sie nicht so verstört gewesen, hätte sie womöglich mit ihm ein Gespräch über seine Lieblingsbücher begonnen.
Aber sie hatte während der vergangenen Stunden schon zu viel gelesen. In ihrem Kopf hämmerte es, und sie verbiss sich ein schmerzvolles Stöhnen. Sie hoffte, der Kaffee würde helfen. Hastig nahm sie ein paar Schlucke und verbrannte sich prompt die Zunge.
»Schade, dass Sie gestern die Predigt verpasst haben«, sagte Cohn.
Jet schob die Gedanken an Lynda Kidder und Corp energisch beiseite und erwiderte: »Ja, tut mir auch leid. Aber Dienst ist Dienst.«
»Ich verstehe.« Er betrachtete sie. Tat so, als studiere er ihr Äußeres. Aus Achtung vor seinem Amt hatte sie die Kapuze zurückgeschlagen und ihre Optibrille abgenommen. Jetzt brauchte sie nur noch ein leichtes Make-up und kein Parfüm, und schon wäre das ihr
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