Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
nächster Auftritt in der Goldwater-Show.
»Wie war der Gottesdienst?«, fragte sie höflich.
»Gut, denke ich. Sie wären überrascht, wie aufgeschlossen die Leute der Auffassung gegenüberstehen, dass wir alle, egal ob Mensch oder Außermensch, HaShems Kinder sind.«
»Da haben Sie recht«, erwiderte sie und dachte dabei an Wurtham, an die Everyman Society, an all jene, die nur darauf warteten, sie auszubuhen, wann immer sie sich in der Öffentlichkeit zeigte. »Ich wäre in der Tat überrascht. Aber es ist schön, das zu hören.«
Cohn lächelte sie an, seine hellen Augen zwinkerten ihr zu. Mit seinem langen weißen Bart, dem gewaltigen Leibesumfang und der Brille sah er eher aus wie ein Anwärter auf die Stelle des Weihnachtsmanns als wie ein Rabbiner. »Wie ich erfahren habe, waren Sie kürzlich der gegenteiligen Meinung ausgesetzt?«
»Laut. Und in aller Öffentlichkeit.«
»Ja. Aber ist es nicht auch ein großer Segen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die uns diese Freiheit der Meinungsäußerung gestattet?«
»Ein Segen«, murmelte Jet und trank mehrere kleine Schlückchen von ihrem Kaffee.
»Und auch eine Verantwortung.«
»Ich weiß, was Verantwortung ist.«
»Sie besser als die meisten.« Cohn sah sie einen Moment lang an. Sein Lächeln wirkte entspannt, seine Augen blickten einladend. »Ein anderer Segen ist es, wenn man die Fähigkeit hat, Dinge in Frage zu stellen.«
Sie legte die Stirn in Falten. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, lässt man seine politische Relevanz einmal beiseite, dann ist das Hinterfragen eine der Freuden des Judentums«, sagte der Rabbi mit einem Augenzwinkern. »Oh, natürlich bekennen wir uns zu Gott. Aber dann hinterfragen wir.«
»Hinterfragen was?«
»Nun, alles«, antwortete Cohn und lachte. »Wir haben einen Hymnus, ›Ein Keloheinu‹. Den singen wir immer nach dem Morgengebet. Erst heißt es darin, dass es keinen gibt, der HaShem gleicht. Sofort danach fragen wir aber, wer wie HaShem ist.«
»Bei allem Respekt, Sir, aber wenn doch schon gesagt wird, dass es keinen gibt, der Ihrem Gott gleicht, warum es dann in Frage stellen?«
»Einfach deshalb, weil wir es können. Weil die Suche nach Antworten eine der Möglichkeiten ist, unsere Menschlichkeit zu zeigen.«
Sie nickte und dachte: Aber das Problem mit der Suche nach Antworten ist, dass man manchmal auch welche findet. Und dann?
Der Datenstick in ihrer Gürteltasche schien sie wie ein schweres Gewicht nach unten zu ziehen.
Wurtham hatte recht gehabt. Lynda Kidder hatte einen abschließenden Artikel für die Origins-Serie geschrieben, der nie erschienen war. Er existierte nur gespeichert auf dem Datenstick. Verschlüsselt. Jet hatte mehr als 40 Minuten gebraucht, um den Code zu knacken, und anschließend die sieben Absätze gelesen.
Und dann hatte sich ihr der Magen umgedreht.
Der Ton des letzten Artikels passte so gar nicht zu dem der anderen Folgen der Serie. Diesem hochtrabenden, selbstgerechten Stil. Der letzte Artikel bestand nur aus flüchtig hingekritzelten Versatzstücken. Jet konnte zwischen den Zeilen förmlich Lynda Kidders Nervosität spüren. Der Text brachte Corp-Co lose mit der Ikarus Fertility Clinic in Verbindung, die in den späten 1980er-Jahren ihren Sitz in New Jersey gehabt hatte. Und auch mit Anlagen zur Seuchenbekämpfung in Hongkong und Mumbai.
Wenn Kidder auf der richtigen Spur war, dann hatte Corp-Co Ikarus Biological an der Wende zum 21. Jahrhundert nicht einfach nur gekauft. Corp-Co hatte eine größere Rolle gespielt. Und das wiederum bedeutete …
Nein. Sie konnte und wollte nicht darüber nachdenken, was das bedeutete. Kidder musste sich einfach irren. Das war pure Spekulation. Oder einfach Streitlust.
Jets Herz hämmerte und hämmerte. Sie wusste nicht, was sie mit den entdeckten Informationen anfangen sollte. Sie Corp übergeben? Den Artikel an die Tribüne schicken, obwohl Kidder ihn zurückgehalten und versteckt hatte?
Ihn vernichten?
»Ich würde Ihnen gerne eine persönliche Frage stellen, Jet. Falls es Ihnen nichts ausmacht. Sind Sie religiös?«
Schlagartig aus ihren verwirrenden Gedankengängen gerissen, antwortete Jet: »Agnostikerin.«
Der Rabbi nickte. »Schon immer?«
Sie erinnerte sich an einen Jungen mit blonden Haaren, an sein warmes Lächeln, sein entspanntes Lachen. »Nein.«
»Ich verstehe.« Er verstummte. Nach einer Weile fuhr er mit sanfter Stimme fort. »Normalerweise wenden sich Menschen, die sehr verletzt wurden, komplett von HaShem ab
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