Projekt Ikarus 02 - Im Zwielicht
sich selbst, als sie den schmutzigen Mantel auf ihren Schultern befestigte und die Kapuze über den Kopf warf.
Eher würde sie sich umbringen.
Sich wesentlich älter fühlend als ihre zweiundzwanzig Jahre, legte sie zuerst Wolf ein Paar Handschellen an, danach White Hot. Um den menschlichen Dieb zu fesseln, griff sie auf das gute, alte Klebeband zurück. Er wehrte sich nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den dreiundzwanzigsten Psalm zu beten. Der Herr ist mein Hirte … Zumindest hatte er also schon mal die Hände verschränkt. Der Rest war ein Kinderspiel.
»Ops«, sagte sie.
Meteorite, knapp: »Sprich!«
»Bitte notiere: Ich muss in Zukunft mehr Handschellen dabeihaben.«
»Notiert.« Pause. Dann fragte Meteorite: »Geht’s dir gut, Süße?«
»Prima«, gab Jet zurück und blickte auf Wolfs blasse Gestalt. »Einfach prima.«
Meteorite räusperte sich. »Okay. Genug der Seelenmassage. Die anderen sind hier. Hast du vielleicht vergessen bei all dem Chaos. Wir haben ein Treffen vereinbart. Es beginnt in, oh, zwei Minuten.«
Mist! »Ich komme, sobald ich meine verschnürten Pakete an der Sechzehnten abgegeben habe. Jet out.«
Jet tippte an ihr Comlink und ersetzte Meteorites Stimme durch das weiße Rauschen eines Wasserfalls. Das würde nicht genügen, um die Stimmen im Zaum zu halten, nicht für immer. Aber zumindest fürs Erste.
Sie befahl einen Schattenfloater herbei, der groß genug war, um White Hot, Wolf, Slider und den Dieb zu tragen, dann einen zweiten, kleineren, für sich selbst. Ein Seil aus grauer Materie zu erschaffen, das beide verband, kostete etwas Zeit. Und noch etwas mehr Zeit kostete es, ihre Kopfschmerzen wegzumassieren.
Dann flog Jet, die bewusstlosen Abtrünnigen und den sinnlos vor sich hin brabbelnden Menschen im Schlepptau, zum Sechzehnten Revier mitten im Planquadrat 16 – dem Gebiet, das die meisten Leute Wreck City nannten.
Und wo Iridium herrschte.
Während Jet die vier Gefangenen vor dem Gebäude ablegte, fragte sie sich, ob Iri wohl damit beschäftigt war, den Wahnsinn zu bekämpfen, der sich in New Chicago und dem Rest des Landes wie eine ansteckende Krankheit ausbreitete, oder ob sie ihn in vollen Zügen genoss. Doch eigentlich, gestand sie sich ein, wollte sie das gar nicht wissen.
Nachdem sie einen Hinweis für Commissioner Wagner hinterlassen hätte, würde Jet sich in die Luft schwingen und nach Wrigley Field fliegen, dem alten Baseballstadion im Norden der Stadt, wo das vereinbarte Treffen stattfinden sollte. Sie war ohnehin bereits viel zu spät dran, und das Letzte, was sie brauchen konnte, war Frostbites Gemotze. Als sie ihre Nachricht unter White Hots Schultergurt befestigte, wurde ihr jedoch plötzlich bewusst, dass sie Publikum hatte: Zivilisten, Menschen ganz verschiedenen Alters. Die Jüngsten so um die zwanzig, die Ältesten fast achtzig, jedenfalls ihrem Äußeren nach zu urteilen. Keiner von ihnen wirkte feindselig. Das war ja schon mal was. Einige sahen neugierig aus. Einer oder zwei wirkten sogar erleichtert. Und glücklicherweise waren nirgendwo Medienvertreter zu sehen.
»Hey«, sagte einer von ihnen – ein Mann mit kastanienbraunem Haar und Sonnenbrille. »Illegale Müllentsorgung steht doch unter Strafe, oder?«
Jet konnte nicht anders – sie musste lächeln. »Ich gebe hier bloß ein Carepaket für Commissioner Wagner ab, Bürger.«
Der Mann grinste. »Glauben Sie nicht, dass ihm das nächste Mal ein paar frisch gebackene Kekse lieber wären?«
Jetzt musste Jet laut lachen. »Das nächste Mal«, erwiderte sie, »macht sich um mich vielleicht auch mal jemand solche Gedanken.«
Und mit diesen Worten schoss sie davon.
KAPITEL 4
IRIDIUM
»Ich habe eine Tochter verloren. Von jetzt an werde ich meine ganze Arbeit, jede einzelne Sekunde meines Lebens, einer einzigen Aufgabe widmen: sicherzustellen, dass niemals wieder Eltern jene furchtbare Leere in sich spüren müssen, die so etwas hinterlässt.«
- Interview mit Matthew Ikarus auf 60 Minuten
19. Januar 1970
Iridiums Lagerhaus duckte sich von der Straße weg wie ein scheues Tier oder ein schlafender Penner. Grobheit, Schmutz und gefletschte Zähne auf der Außenseite verbargen den inneren Kern.
Sie tippte den Zugangscode in einen altmodischen Zahlenblock ein, der von keinem Hacker mit kabellosem Gerät geknackt werden konnte. Man musste schon ganz nahe herangehen und die Tür höchstpersönlich aufbrechen. Allerdings stellte ein ebenso altmodischer
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