Projekt Ikarus 02 - Im Zwielicht
Decken war Leben. Zur Zeit waren nur drei Babys hier. Und nur eine Decke war rosa.
»Herzlichen Glückwunsch, Luster«, sagte die Schwester und führte ihn zu dem Bettchen. »Das ist ihre kleine Tochter.«
Lester streckte die Hand aus. Er tat es so vorsichtig, wie er noch nie in seinem Leben etwas getan hatte. Als er den winzigen Körper berührte, öffnete das Baby die Augen. Sie waren strahlend blau wie das Meer. Nach außen hin wurden sie etwas blasser, ein Hinweis darauf, dass sie später eine Farbe annehmen würden, die eher dem Grau seiner eigenen Augen ähnelte.
»Sie ist … mein«, sagte er.
Die Schwester berührte ihn am Arm. »Eigentlich sind nur fünf Minuten erlaubt. Aber bleiben Sie ruhig, so lange Sie wollen. Schließlich sind Sie der Held von New Chicago.«
Das erste Mal seit fast einem Jahr war Lester wieder froh über seinen verdammten Sponsorenvertrag. Er hielt seine Tochter liebevoll in der Armbeuge, genauso, wie er es bei seiner Mutter gesehen hatte, als sie seine jüngeren Brüder trug. Bevor sie gestorben war, natürlich. Danach hatten die einzigen Berührungen in der Bradford-Familie aus Faustschlägen ins Gesicht und Tritten in die Eingeweide bestanden.
»Hallo, Calista«, sagte er.
Das Baby blickte ihn unverwandt an. Dann zwinkerte es einmal.
»Eins will ich hier gleich mal klarstellen«, fuhr er fort. »Ich hatte einen beschissenen Vater, und ich habe überhaupt keine Erfahrung mit so was. Aber ich werde mein Bestes für dich tun.« Vorsichtig und mit langsamen Schritten ging er ein bisschen mit ihr in dem fast leeren Raum umher. Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass Babys Bewegung mochten. »Ich würde alles für dich tun, Mädchen. Du bist mein.«
Ehrlich und aufrecht sein, in die richtige Richtung fliegen, den verdammten Ohrknopf tragen. All das würde er tun, mit einem Lied für seine Familie auf den Lippen. Zum ersten Mal seit … na ja, wenn er ganz ehrlich sein wollte, zum ersten Mal überhaupt, ärgerte sich Lester nicht bei dem Gedanken an Corp und Sponsorenverträge. Er hatte jetzt noch etwas anderes, etwas, das nur ihm allein gehörte. Eine Frau und eine Tochter.
Eine Familie.
Lester spürte, wie sich tief in seinem Inneren ein kleines, scharfkantiges Loch schloss. Zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben fühlte er sich … vollständig.
KAPITEL 26
NIGHT
Hypnotic nicht mehr zu retten. Bin extrem enttäuscht. Werde die Papiere für seine Ausmusterung fertig machen. Wenn das durch ist, kommt er in die Therapie.
- Aus dem Tagebuch von Martin Moore, Eintrag Nr. 120
Night ging den Korridor der Psychiatrischen Abteilung hinunter, die tief verborgen in den Eingeweiden der Akademie lag. Seine Schritte hallten von den Wänden wider. Demonstrativ ignorierte er die Geräusche, die aus den einzelnen Zellen hinter den tiliziumverstärkten Türen drangen. Das fiel ihm leicht, denn hier waren die Kräfte der mit mentalen Fähigkeiten begabten Außermenschlichen dank der eingesetzten Drogen so gut wie lahmgelegt, und Night hatte bisher deswegen überlebt, weil er Stimmen ausblenden konnte, die er nicht hören wollte.
Als er bei Zelle Nummer 6002 angekommen war, tippte er den Code ein, den ihm der Chef des Eindämmungsteams draußen gegeben hatte. Die Tür glitt auf, und er trat ein, wobei sich sein schwarzer Umhang fast königlich bauschte.
Doctor Hypnotic saß mit überkreuzten Beinen in der Ecke, die Arme gnadenlos gefesselt in einer Zwangsjacke. Das schwarze Haar hing ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht, und er trug einen ungepflegten Bart. Er sah nicht auf, als Night in die Zelle kam – wie Night vom Eindämmungsteam erfahren hatte, waren ihm gerade eben seine Medikamente verabreicht worden. Das war überhaupt der einzige Grund dafür, dass sie ihm gestattet hatten, ohne Eskorte hierherzukommen.
Wie es schien, hatten sie hier so ihre Probleme mit Hypnotic. Night hatte die schiere Willenskraft dieses Mannes schon immer bewundert.
Er ging vor dem früheren Helden in die Hocke. »Doctor Hypnotic?«, fragte er sanft, »jemand zu Hause?«
Dunkle Augen rollten sich herum, um ihn anzusehen – der Blick war stumpf, ja, aber das tat seiner Intensität keinen Abbruch.
Sehr gut. Wäre der Mann zu sehr mit Drogen vollgepumpt, würde Night hier nur seine Zeit verschwenden. Er warf ein Schattennetz aus: eine unsichtbare, undurchdringliche Blase, durch die keinerlei Geräusch drang. Niemand sollte hören, was er seinem früheren Kollegen zu sagen hatte. »Ich
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