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Promenadendeck

Promenadendeck

Titel: Promenadendeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Erwachsenen, meistens Frauen in zerlumpten Kleidern, Greise und Urmütter, standen oder saßen vor ihren Hütten. Die Karawane der Wasserträger zog hin zur Straßenpumpe und kam zurück mit gefüllten Eimern. Ein täglicher, nie abreißender Kreislauf.
    »Warum halten wir?« fragte Rieti. Was er sah, war erschütternd und erschreckend.
    »Hier kann man am besten sehen, wie die Hälfte unseres Volkes lebt. Ja, so ist das, Señor.«
    »Die Hälfte? Sie übertreiben.«
    »Die Hälfte unseres Volkes ist arbeitslos. Sie ernährt sich wie die Tiere mit Gottes Hilfe. Sie haben vorhin gefragt: Waren Sie nicht in der Oper?« – Der Fahrer zeigte auf das Elend um sie herum: »Wie können die in eine Oper gehen, wenn ihr Bett nur eine Decke auf der Erde ist? Oper, das ist was für die Reichen! Unsere Musik ist das Knurren der Mägen und das Geschrei der Kinder. Ein kleiner König ist, wer ein Batterieradio hat.« Rieti überlegte stumm. Dann plötzlich drückte er die Klinke herunter und stieß die Autotür auf. Der Taxifahrer zuckte, wie von einer Giftspinne gebissen, herum und hielt Rieti an der Jacke fest.
    »Sind Sie total verrückt?!« schrie er. »Um Gottes willen, bleiben Sie doch im Wagen! Tür zu! Tür zu!«
    Aber es war schon zu spät. Mit Schwung verließ Rieti den Wagen und ging die zwei Schritte vor zum Kühler. »Nun hört mal alle zu!« sagte er in seinem perfekten Spanisch zu den Kindern, und er fuhr fort, zu den Hütten ringsum gewandt: »Auch Sie, meine Herrschaften! Ich bin Franco Rieti, ein berühmter Sänger. Wer mich hören will, muß in der Oper viel Geld dafür bezahlen. Ihr könnt nie in eine Oper gehen, aber Musik ist für jeden da. Und Gott hat mir eine Stimme gegeben, die jeder hören soll, nicht nur die Reichen. Für euch singe ich jetzt, zum erstenmal in meinem Leben. Die Oper heißt Der Liebestrank, und ich singe euch die Arie Una furtiva lagrima .« Er öffnete den Knopf seiner Seidenjacke, knöpfte das Hemd bis zur halben Brust auf und holte tief Atem.
    Schon nach den ersten Tönen ahnte Rieti, daß er heute, hier in den Slums von Callao, den besten Nemorino seiner Sängerlaufbahn sang. Seine Stimme floß dahin, als sei sie wirklich in Honig eingebettet, und bei den hohen Tönen leuchtete sie auf, wie er es bei sich selten gehört hatte. Ich bin wieder in Form, dachte er glücklich. Nach dem Debakel in San Francisco, wo schon beim hohen ›H‹ der Ton erschreckend dünn geworden war und bis zum ›C‹ gar nicht kam, war das hier wie eine Befreiung.
    Mit vollem Atem hielt er den Schlußton fest, um dann die Arme sinken zu lassen und tief Luft zu holen. Um ihn herum klatschten die Menschen begeistert in die Hände. Nur der Taxifahrer saß wie lauernd hinter dem Steuer des Autos.
    Und wirklich: Schlagartig ließ das Applaudieren nach, wie abgeschnitten. Bewegung kam in die Rieti umringende Menge der Kinder und Jugendlichen. Wie eine Woge fielen sie ihn an, zogen ihm die Beine weg, warfen ihn in den Dreck der Straße und ertränkten ihn gewissermaßen mit ihren Leibern.
    »Was ist denn?« konnte Rieti noch brüllen. »Ich habe doch für euch gesungen. Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
    Aber niemand half ihm. Die Erwachsenen rund um den Platz sahen bewegungslos zu, der Taxifahrer steckte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an, und Rietis Gebrüll verstummte nach ein paar Sekunden.
    Das Ganze dauerte kaum zehn Minuten, dann stob die Menge der Kinder und Halbwüchsigen auseinander. Nach allen Richtungen rannten sie weg und verschwanden wie Ratten in den Hüttengassen und den Müllbergen. Rieti lag, zerschunden, zerschlagen, zerkratzt und blutend auf der Erde, bis zum letzten ausgezogen, völlig nackt, und so blieb er auch liegen, als habe man ihm alle Knochen gebrochen und alle Muskeln und Sehnen zerschnitten. Nur seine Augen blickten ungläubig und spiegelten sein Nichtbegreifen wider. Erst als der Taxifahrer aus dem Wagen stieg und ihm auf die Beine half, schien er zu verstehen, daß er nackt war, beraubt.
    Mit einem Satz ließ sich Rieti in den Wagen fallen und riß die Tür zu. Er tastete mit beiden Händen seinen schmerzenden Körper ab und legte sie dann wie ein Dach über sein Geschlecht. Der Fahrer stieg unbeeindruckt ein, startete den Motor und fuhr zur Hauptstraße zurück.
    »Sie haben einfach zugesehen!« schrie Rieti, noch während sie durch die Hüttengasse rasten. »Sie haben mir nicht geholfen. Sie haben mich überfallen lassen.«
    »Was sollte ich tun, Señor?« Der Fahrer schüttelte

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