Promenadendeck
Gruppe ging auch Ewald Dabrowski von Bord, geführt von Beate. Sie war böse auf ihn, weil er nicht den Flug nach Cusco gebucht hatte. Die Gruppe nach Cusco begleitete nämlich wieder Dr. Paterna, der Höhe wegen. Und Barbara Steinberg konnte nicht mit; sie mußte im Hospital bleiben, das linke Bein hochgelagert und bandagiert. Der Knöchel war nicht gebrochen, aber gründlich verstaucht und von einem Bluterguß umgeben. Selbst ein Herumhumpeln an Krücken war in der ersten Woche nicht möglich.
Aber auch nach Iquitos flog Dabrowski dann nicht mit. Vielmehr ließ er sich zu den wartenden Taxis führen, verhandelte in einem guten Spanisch über den Preis und stieg in einen der Wagen ein.
»Wohin fahren wir denn?« fragte Beate erstaunt.
»Dahin, wo die anderen nicht hinkommen. Lassen Sie sich überraschen, Mädchen.«
Auch Kammersänger Rieti verließ das Schiff und mietete allein ein Taxi. Er verabscheute solche Massentouren, war allergisch gegen Omnibusfahrten und fühlte sich immer und überall von den Menschen bedrängt. Ich auf der Bühne – ihr im Parkett, das reicht. Näher brauchen wir uns gar nicht zu kommen.
»Wohin, Señor?« fragte ihn der Fahrer.
»Kreuz und quer.« Rieti lehnte sich zurück. »Zeigen Sie mir Ihr Land. Ich bin Kammersänger Rieti.«
»Ach so!« sagte der Fahrer unbeeindruckt.
»Sie kennen mich nicht? Ich habe schon in der Oper von Lima gesungen. Aida. Ein Riesenerfolg.«
»Für die Oper haben wir kein Geld.« Der Fahrer startete den Motor.
Um neun Uhr war das Schiff fast leer. Kapitän Teyendorf hatte sich in die völlig leere Atlantis-Bar zurückgezogen und traf dort auf Hoteldirektor Riemke, Obersteward Pfannenstiel, den I. Offizier Kempen und Chief Wurzer. Sie tranken genußvoll einen eiskalten Whisky.
»Jetzt sind wir wie Waisenkinder, Leute!« sagte Teyendorf nachdenklich. »Über zwei Tage lang. Aber dann –! Wer wettet mit mir, wieviel Überfallene an Bord zurückkommen?«
12.
So etwas hatte Kammersänger Rieti noch nie gesehen, und er war in der Welt weiß Gott weit genug herumgekommen. Doch sein täglicher Weg in allen Ländern zwischen Hotel und Opernhaus führte ihn nie dorthin, wo Menschen lebten, die überhaupt nicht wußten, was eine Oper ist. Ihn umgab immer nur der Glanz von Bühne und Bankett, von Ruhm und Erfolg. Das führte dazu, daß Rieti von sich selbst annahm, einer der größten Tenöre dieser Welt zu sein, und daß es niemanden geben könnte, der seinen Namen nicht kannte. Hier in Callao erlebte er nun hautnah, was es heißt, nicht bloß arm, sondern ausgestoßen zu sein. Mit weiten Augen saß er neben dem Taxifahrer im Wagen, starrte durch die Scheiben auf das unfaßbare Elend um sich herum und begriff einfach nicht, wie es möglich war, daß Menschen unter solchen Verhältnissen überhaupt noch einigermaßen normal leben konnten.
Er sah die ersten Slums seines Lebens. Der Taxifahrer hatte zunächst gezögert und den Wagen angehalten, als sie außerhalb der Hafenabsperrung durch das Militär auf die große Zufahrtsstraße nach Lima kamen und links und rechts von ihnen die weit ausgedehnte, flache Elendsstadt mit ihren aus Abfällen errichteten Hütten begann.
»Sie wollen wirklich da hinein?« fragte er ungläubig.
»Warum nicht?« fragte Rieti zurück.
»Man sieht nicht gern gut angezogene Señores, und Neugierige schon gar nicht. Der Ort des Hungers ist kein Ausflugsziel, Señor.«
»Sind das öffentliche Straßen?« Rieti blickte etwas hochmütig zu den Slumgassen hinüber. Belehrungen waren ihm zuwider.
»Natürlich.«
»Also fahren wir sie! Ich habe so eine Siedlung noch nie gesehen, nur von ihnen gehört. Kaum glaublich.«
»Auf Ihre Verantwortung, Señor.« Der Taxifahrer löste die Bremse und schlug den Gang ein. »Mir passiert nichts. Ich bin Mestize wie sie. Noch mal: Sie wollen also in die barriadas hinein?«
»Dort in die Slums.«
»Sie heißen bei uns barriadas. Fahren wir!«
Langsam, vorsichtig, als müßte er sich durch unbekanntes wildes Gebiet tasten, fuhr das Taxi in die Elendsviertel hinein. Die Kinder in ihren zerfetzten Kleidern starrten erstaunt das Auto und den vornehmen Mann darin an, und da das Taxi in Schrittgeschwindigkeit fuhr, rannten sie laut schreiend, gestikulierend, winkend und beide Hände bettelnd ausstreckend, neben dem Wagen her, gefolgt von bleichfelligen Hunden und ausgemergelten Ziegen. Auf einer Art Marktplatz hielt der Fahrer an. Sofort war das Taxi von Kindern und Halbwüchsigen umstellt. Die
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