Promijagd
unten geklingelt habe und gleich im Flur stehen würde.
»Wer ist es denn?«
»Herr Fröttstädt.«
»Ah, ja.« Sören Fröttstädt, das war der Pilot, der mit seinem Alkoholproblem nicht klarkommen konnte. Seit Narsdorf ihn behandelte, fuhr er, Narsdorf, lieber mit der Bundesbahn. »Schicken Sie ihn bitte in einer Minute herein.«
Diese eine Minute brauchte Narsdorf, um seine Notizen zu überfliegen. Fröttstädt hatte angefangen zu trinken, weil er, saß er im Cockpit, immer öfter den zwanghaften Wunsch verspürte, seine Maschine gegen einen Berg zu lenken und alle Passagiere mit in den Tod zu nehmen. Den Kopiloten wollte er vorher niederschlagen.
»Das wäre so einer, den Völlenklee mit einer Erpressung treffen könnte«, murmelte Narsdorf. Vielleicht erzählte ihm Fröttstädt von sich aus, dass er erpresst wurde, er selbst konnte sich ja schwerlich aus der Deckung wagen. Oder? Noch erwog er das Für und Wider eines offenen Wortes, da klingelte sein Telefon. Auf dem Display erschien das Wort
›Unbekannt‹, und ehe Vanessa draußen abnehmen konnte, hatte er selbst reagiert.
»Narsdorf, ja bitte?«
»Es ist soweit. Wir treffen uns um 19 Uhr an der Gedächtniskirche. 5.000 Euro hätte ich gern. Keine Polizei, sonst …«
»Schön, dich zu sprechen, Leon!«, rief Narsdorf, aber da hatte der andere längst aufgelegt.
*
Hagen Narsdorf ließ seinen BMW in der Garage und fuhr mit der U-Bahn zum Zoo. Dies nicht nur aus praktischen Gründen, weil um die Gedächtniskirche herum kein Parkplatz zu bekommen war und er Parkhäuser hasste, sondern auch, um sich selbst zu bestrafen. Zu bestrafen für seine Dummheit, das Geld für bessere Firewalls gespart zu haben, für seine Dummheit, die Notizen über prominente Patienten nicht auf Papier gemacht und in den Panzerschrank gesteckt zu haben. Mit der U- und S-Bahn zu fahren, war wirklich eine Strafe für ihn. Nicht dass er unter irgendwelchen Phobien gelitten hätte, aber er hasste es, mit dem stinkenden und blöde quasselnden Plebs auf engem Raum zusammengepfercht zu sein, in rollenden Sozialstationen.
Während er auf die vorbeirasenden Tunnelwände starrte, fragte er sich, warum er Leon Völlenklee von dem Augenblick an gehasst hatte, als sie sich als 15-Jährige in ihrer neuen Klasse zum ersten Mal begegnet waren. Da musste in seinem Hirn ein Muster, ein Raster angelegt gewesen sein, das beim Anblick des anderen automatisch Gefühle von Angst und Hass ausgelöst hatte. ›Ich bin hier das Genie‹, hatte Völlenklee allen signalisiert, ›ihr seid nur mediokre Kleingeister, Streber, Schwätzer‹. Mit breitem Grinsen und ätzender Ironie hatte er alles kommentiert, was sie zu sagen wagten, er dagegen war allwissend. Immer schläfrig, immer gelangweilt, weil er sich maßlos unterfordert fühlte. Auch noch, als ihn die Lehrer, von ihm ebenso genervt und gedemütigt wie seine Klassenkameraden, in die Ehrenrunde geschickt hatten. Narsdorf realisierte jedoch auch, dass Völlenklee ihn in seiner Identität bedroht hatte. Schwerfällig war er sich in seiner Nähe vorgekommen, als Streber und Spießer, und wurde er aufgerufen, so hatte er manchmal richtiggehend zu stottern angefangen, weil es ihm nicht gelingen wollte, so elegant daherzureden wie Völlenklee es konnte.
In Völlenklees Nähe wurde er krank, und so definierte es Narsdorf als Notwehr, dass er mit allen Mitteln, auch mit schmutzigen Tricks, versucht hatte, Völlenklee aus seiner Klasse zu entfernen. Das mit Völlenklees Mutter stand allerdings mit seinem Feldzug gegen Leon in keinem Zusammenhang, das war eher so wie bei Dustin Hoffman und der ›Reifeprüfung‹ gewesen. Susanne war eines Tages in seinem Tennisklub erschienen und hatte Stunden nehmen wollen, und da er sich sein Taschengeld als Tennislehrer verdiente, war sie ihm zugewiesen worden. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sie Völlenklee hieß. Kühl und sachlich wie Mrs. Robinson beziehungsweise Anne Bancroft hatte sie ihn ins Bett geholt, und wehrlos wie Benjamin Braddock war er ihr gefolgt, bis zu diesem Abend noch Jungfrau. Da hatte der Gedanke, Leon eins auszuwischen, nicht die geringste Rolle gespielt, und dass die Ehe der Völlenklees in die Brüche gegangen war, hatte mit der Affäre wenig zu tun, die hatte alles höchstens ein wenig beschleunigt.
Sein Hass auf Leon Völlenklee und sein Krieg mit ihm erschien Narsdorf ebenso irrational wie der zwischen den Israelis und den Palästinensern. Man konnte sich das Leben nicht
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