Promijagd
im Fernsehen das Spiel Italien gegen Frankreich, doch das war schnell langweilig geworden, da nach der Verletzung ihres besten Spielers und einer Roten Karte für einen Franzosen die Partie rasch für die Italiener entschieden war.
»Wenn einer so pokert wie Fröttstädt, haben wir keine Chance mehr«, sagte Corinna.
Völlenklee probierte den teuersten Rotwein seines Lebens. »Daran könnte man sich direkt gewöhnen.« Er nahm den zweiten Schluck. »Ich glaube trotzdem nicht, dass er zur Polizei laufen wird.«
»Und warum glaubst du nicht daran?«, fragte Corinna.
»Weil ich das so im Gefühl habe.«
»Und warum hast du das so im Gefühl?« Völlenklee dachte einen Augenblick nach. »Er ist damit aufgewachsen, dass er Verantwortung für andere hat, für seine Passagiere. Und er weiß auch, dass er die Verantwortung für das Schicksal von Narsdorf, Mägdesprung und andere hat: Zeigt er uns an, werden sie alle abstürzen. Das kann er nicht wollen.«
»Oder gerade«, wandte Corinna ein. »Psychisch angeknackst wie der ist.«
»Warten wir’s ab.«
»Jedenfalls zahlt er nicht«, hielt Corinna fest. »Und mit seinem Geld hatte ich fest gerechnet. Wenn er ausfällt, wer steht als Nächster auf unserer Liste?«
»Diese Popsängerin: Millie Malorny.«
»Ach Gott!«, rief Corinna.
Völlenklee ging ins Schlafzimmer hinüber, das gleichzeitig sein Arbeitszimmer war, und suchte den Ausdruck mit der Krankengeschichte heraus.
›Anamnese Nicole Leckscheidt (Künstlername Millie Malorny): Kommt mit den Widersprüchen in ihrem Leben nicht klar. Hat ihr Abitur mit 1,7 gemacht, wird jedoch von ihrem Manager als das kleine Dummchen verkauft. Ihren Künstlernamen hasst sie, weil sie ihn als unsagbar albern empfindet. Statt Jura zu studieren und Richterin zu werden, wie sie es vorgehabt hat, singt sie nun geistloses Zeug, aber das Geld, das damit zu verdienen ist, und ihre narzisstische Unersättlichkeit treiben sie immer weiter in diese Richtung. Dazu kommt ein anderes Motiv, sie sagt: »Ich habe das Gefühl, dass in mir eine Leere herrscht, die ich nur ausfüllen kann, wenn ich auf der Bühne stehe.« Doch steht sie dort, leidet sie unter ihrer Rolle. So entwickelt sie langsam Symptome einer Borderline-Persönlichkeitsstörung: Sie schwankt zwischen dem Wunsch nach Nähe und der Angst vor Intimität, unterliegt radikalen Stimmungsschwankungen wie Schüben von Angst und Depression, leidet unter wiederkehrenden Selbstmordgedanken und fügt sich Schnittverletzungen zu, erlebt auffällige Identitätsstörungen, berichtet von psychotischen Erfahrungen (Gefühle von Unwirklichkeit und paranoide Wahnvorstellungen). Ihre Impulsivität setzt ihr am meisten zu, sie empfindet sie zunehmend als selbstzerstörerisch. Sie hasst das Publikum, möchte herausschreien, dass sie alle für Idioten hält, die ihr zuhören, und fürchtet, dass ihr Zorn einmal so groß werden könnte, dass sie mit einem Messer auf die einsticht, die ihr zujubeln. Eine erste Attacke hat es bereits in einem Kaufhaus in M. gegeben, aber da ist es ihrem Manager gelungen, alles zu vertuschen. Es belastet sie ungemein, dass im Feuilleton ernstzunehmender Zeitungen fürchterlich über sie hergezogen wird. Mit den durchweg vernichtenden Kritiken der Redakteure kann sie nicht leben und zeigt zunehmend Symptome des Verfolgungswahns. Dinge und Menschen werden ihr unheimlich (»Die Wände in meiner eigenen Wohnung wollen mich fressen!«). Alle tun ihr Unrecht an, sie sieht sich als Opfer.‹
»Nicht schlecht«, fand Corinna, als sie alles noch einmal überflogen hatte. »Irgendwie tut sie mir auch leid. Ihr Künstlername ist ja wirklich scheußlich.«
»Na, Nicole ging nicht wegen der Nicole mit ›ein bisschen Frieden‹. Und Leckscheidt ging sowieso nicht, da denkt jeder gleich an …« Er kam nicht auf das Wort.
Corinna sah im Lexikon nach. »Cunnilingus … Wollen wir wirklich …?«
»Wie?« Völlenklee war etwas verwirrt. »Zu Millie Malorny oder …?«
»Zu ihr natürlich.«
*
›Egal, wo Millie Malorny auftaucht, überall verursachen die MM-Fans das reinste Chaos. Ihr Poster, auf dem sie nur mit der deutschen Fahne bekleidet zu sehen ist, hängt in jedem Teenie-Zimmer. Schwarz wie ihre Blues-Stimme. Rot wie die Leidenschaft, mit der sie ihre Songs vorträgt. Gold wie ihre wunderschönen langen Haare. Über 1.000 E-Mails bekommt sie täglich, aber beantworten muss sie ihr Manager. Wegen ihrer schlechten Noten in Deutsch musste Millie Malorny bereits
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