Promijagd
normalisiert hatte. Dann lauschte er. Nichts. Wahrscheinlich saßen die beiden in irgendeinem Biergarten, um Fußball zu gucken. Dennoch klingelte er. Einmal, zweimal. Nichts rührte sich. Die blöden Schweine! Er überlegte, was er ihnen als kleines Andenken dalassen konnte, und kam auf seinen Sekundenkleber. Den ins Sicherheitsschloss gespritzt, und es kam Freude auf. Das hatten sie mal bei einem Kumpel gemacht, um dem die Hochzeitsnacht zu vermiesen. Ohne einen Notdienst zu holen, ging da nichts mehr. Nachdem Bulkowski die halbe Tube in Völlenklees Schloss entleert hatte, machte er sich wieder an den Abstieg. Möglicherweise kam ihm Völlenklee noch entgegen. Kam er aber nicht.
Fluchend stieg Bulkowski wieder ins Auto. Jetzt zurück nach Kladow zu fahren, hatte er keine Lust. Er überlegte, während er den Motor startete, wo es die größte Leinwand gab und wo er Deutschland gegen Portugal am besten sehen konnte.
In diesem Augenblick sah er Völlenklee auf seinem Fahrrad in die Dieffenbachstraße einbiegen. Das war seine Chance! Ohne eine Sekunde zu zögern, gab Bulkowski Gas und raste auf den anderen zu.
21
Corinna Natschinski war am U-Bahnhof Mehringdamm in den Bus M29 gestiegen, um zur Vernissage ihrer Freundin Basmath zu fahren. Allein, weil Völlenklee lieber zu Hause sitzen und sich ansehen wollte, wie die Deutschen gegen die Portugiesen verloren. Sie saß gern oben in der ersten Reihe und nahm die Busfahrt als Sightseeing-Tour. Schon als Kind hatte sie immer an diesem Platz sitzen wollen. Als Kind … Als sie noch nicht geahnt hatte, dass ihre Kindheit in einer Katastrophe enden sollte. Am Nachmittag hatte sie ihre Eltern besucht. Ihren Vater auf dem Friedhof, ihre Mutter in der Psychiatrie.
Es ging unter den Yorckbrücken hindurch, und sie zog unwillkürlich den Kopf ein, weil sie Angst hatte, das Oberdeck des Busses würde abrasiert werden. Danach ging es unter der Hochbahn durch. Wenn genau in dem Moment ein Zug herunterfiel … An manchen Tagen war das Leben nur eine Manifestation von Ängsten, das wusste sie, und sie musste an einen Dialog zwischen ihren Eltern denken. »Irgendwann hänge ich mich auf!«, hatte ihr Vater geschrien, und ihre Mutter hatte geantwortet: »Bitte, wenn du dich dadurch verbessern kannst.« Die Frage war, ob er sich wirklich verbessert hatte.
Einsatzwagen rasten an ihrem Bus vorbei und schleuderten ihre blauen Blitze in den Berliner Feierabend. Schwärmten sie aus, um sie und Völlenklee zu verhaften? Vielleicht war dieser Pilot zur Polizei gegangen und hatte Tabula rasa gemacht.
Es ging am KaDeWe vorbei und die Tauentzien hinunter, und sie staunte über die vielen Menschen, denen es so ging wie ihr und die an diesem Tag anderes im Kopf hatten als Fußball. Aber selbst die wussten, wer Jens Lehmann und Michael Ballack waren, und genau in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass der Wert eines Lebens davon abhing, wie viele Menschen einen kannten, und ihr Leben wertlos war, weil keiner sie kannte. Corinna Natschinski? Malerin? Nie gehört. Nicht einmal Gott, dachte sie, als sie die Gedächtniskirche sah, hatte sie in seinem großen Himmelscomputer gespeichert.
An der Ecke Kurfürstendamm und Joachimsthaler Straße hatte sich auf dem Bürgersteig vor einem Bierlokal eine Gruppe jugendlicher Fans gebildet und lärmte plebejisch. Einige von ihnen pinkelten grölend gegen eine Plane, die von einem Gerüst herunterhing. Corinna wusste, dass sie den Kudamm unbedingt meiden musste, wenn es nach dem Spiel zum Autokorso kam.
An der Leibnizstraße stieg sie aus und ging in Richtung Stadtbahn. In der kleinen Galerie hatten sich an die 50 Gäste eingefunden. Die meisten von ihnen gehörten zur Szene und genossen es, sich in Szene zu setzen. Basmath war glücklich über ihre erste Vernissage. Sie hatte wirklich Talent und beim Feuilleton immer gute Karten. Ihr Thema waren Insekten. Insekten mit menschlichen Gesichtern, Insekten als Herren der Welt, nachdem die menschliche Zivilisation zusammengebrochen war.
Der Galerist klopfte gegen seinen Sektkelch, um eine kleine Begrüßungsrede zu halten. »Ihr Lieben, ich freue mich, dass ihr heute gekommen seid. Es gibt in dieser Stadt wohl doch noch echte Alternativen zum Fußball.« Hier musste er eine kleine Pause machen, weil heftig geklatscht wurde. »Danke … Das bestätigt mich in meiner Auffassung, dass die Elite dieses Landes nicht nur auf dem Rasen zu finden ist. Ich freue mich also, dass ihr gekommen seid. Es ist ja immer
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