Prophetengift: Roman
fast über das unebene Pflaster gestolpert wäre. Die bräunliche Haut, die wie gemeißelten Züge und das zu Igelstacheln gestylte schwarze Haar erinnerten Dyson an irgendeinen europäischen Playboy-Fußballspieler.
Es ist okay, beruhigte er sich. Ich schaffe das.
»Ich bin Olivier.« Der Mann streckte seine große Hand aus. »Sie sind Dyson?«
Er sprach mit einem eleganten Akzent und seine Stimme war viel zu tief für einen so jungen Mann.
Wahrscheinlich raucht er.
»Hallo«, erwiderte Dyson und ergriff die dargebotene Hand. So warm.
»Danke, dass Sie gekommen sind.« Olivier legte beruhigend eine Hand auf Dysons Schulter. »Bitte kommen Sie doch herein.«
Dyson musterte das Wohnzimmer. Die Gewölbedecke war so hoch und die Dimensionen so großzügig, dass man mit einem Lastwagen hätte hineinfahren können. Der kunstvoll gemeißelte Marmorkamin an der Westwand schien eines Schlosses würdig. Doch der vormals prachtvolle Raum war jetzt so gut wie leer, abgesehen von einem unpassend billigen grünen Kunstledersofa, zwei Beistelltischchen, die offenbar von einem privaten Flohmarkt stammten, einem beigen Sessel mit verstellbarer Rückenlehne und fleckiger Kopfstütze sowie einer mammutartigen Anrichte mit grotesken Schnitzereien, die offenbar direkt vom Filmset von Dracula hierher verfrachtet worden war.
»Bitte setzen Sie sich doch.« Olivier wies auf das grüne Sofa. »Ich hätte gern, dass Sie sich etwas ansehen, bevor wir uns weiter unterhalten.«
Während Dyson sich zögernd in einer Sofaecke auf dem kalten Vinylkunststoff niederließ, erloschen die Alabasterleuchten an den Wänden und die spärliche Möblierung verlor ihre Dreidimensionalität und verblich zu Silhouetten. Dann ging der monströse Flachbildschirm-Fernseher – er war fast so groß wie ein Kingsize-Bett – an der gegenüberliegenden Wand an und Dyson bekam einen Mitschnitt von einer von Sebastians Versammlungen zu sehen.
Nach ein paar Minuten zielte Olivier, der in der Pose einer Renaissance-Statue neben Dyson stand, einen Daumen in die Jeans gehakt, mit der Fernbedienung auf den Fernseher und stellte den Ton ab. »Was denken Sie?«
»Er ist ein Schwindler.« Dyson richtete den Blick fest auf den flackernden Bildschirm und versuchte Oliviers berauschenden Duft zu ignorieren. »Und das, was er tut, ist böse.« Er schaute den jüngeren Mann an. »Sebastian Black ist ein verlogener Betrüger und er muss aufgehalten werden.«
Oliviers dunkle Augen blitzten. »Sie und ich, wir denken gleich. Die sogenannte Religion dieses Mannes ist nichts weiter als ein ausgeklügeltes Täuschungsmanöver, um zu Geld und Ruhm zu gelangen.« Er legte die Hand auf Dysons Schulter. »Aber ich hatte seinetwegen kürzlich eine Offenbarung im Gebet, und deshalb habe ich Sie hergebeten. Ich habe Grund zu der Annahme, dass sein Erscheinen zu diesem Zeitpunkt und seine Popularität Teil von Gottes Plan ist.«
»Wie das?«, fragte Dyson gleichgültig.
Olivier zog seine Hand zurück und begann langsam durch den Raum zu schlendern, die Hände auf den Hüften, die Schultern zurückgenommen. »Es könnte auf den Anfang vom Ende hindeuten«, entgegnete er. »Luzifer. Jezebel. Die sieben prophetischen Kirchen. Armageddon.«
Dyson lachte. »In den letzten tausend Jahren denken immer irgendwelche Leute, dass die Endzeit begonnen hat, wenn es
mal wieder ein großes Erdbeben gibt oder eine Schar Vögel vom Himmel fällt.«
»Niemand kennt diese Anzeichen besser als ich.« Olivier schaute ihn an und seine Onyxaugen glitzerten. »Aber das, was ich über Sebastian Blacks Rolle in Gottes Plan gesagt habe, war mein voller Ernst.«
»Wie das?«
»Wie Sebastian selbst bei seinen Vorstellungen aufzeigt«, Olivier begann gestikulierend auf und ab zu gehen, »leiden zu viele Menschen auf der Welt: bankrotte Staaten, Erdbeben, Ölverschmutzung und andere Naturkatastrophen, die nukleare Bedrohung vom Iran und von Nordkorea, endlose Hungersnöte in Afrika und so weiter. Und gerade wenn man denkt, dass es keine weitere Steigerung dieser menschlichen Tragödien geben kann, erscheint Sebastian Black und stellt Satans betrügerische Fähigkeit zum Gedankenlesen zur Schau, während er sein ›Königreich des neuen Menschen‹ aufbaut.«
Während Olivier seinen Monolog fortsetzte, war Dyson zunehmend fasziniert von der athletischen Anmut seines Körpers, aber auch von den subtilen Mechanismen seines Mienenspiels. Die starken, doch perfekt geschwungenen Augenbrauen des jungen Mannes
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