Prophetengift: Roman
seine Taille, löste die Gürtelschnalle, zog den Gürtel halb heraus und fädelte ihn korrekt durch, bevor er ihn wieder zuschnallte. »Sind heute viele Leute da?«
Kitty nickte. »Mehr denn je. Bist du nervös?«
Sebastian zuckte die Achseln. »Wir sehen uns gleich.«
»Ich bin direkt hinter dir«, sagte Kitty. Dann erhob sie sich von ihrem Stuhl, schob sich ein Stück Fruchtkaugummi in den Mund und folgte ihm zur Tür hinaus.
Sebastian begrüßte die Menge und begann mit seiner Predigt. Er sprach von Gott und von Vergebung, von Liebe und von der Holozän-Umbruchsperiode und dann fing er mit seinen Einzel-Kurzreadings an: Da war ein Jugendlicher, dessen Vater ihn und seine Mutter verlassen hatte, eine ältere Frau, deren Tochter wegen bewaffneten Raubüberfalls im Gefängnis saß, und ein Mann, dessen Frau mit einem Jüngeren davongelaufen war. Üblicherweise führte er während einer Versammlung fünf bis acht Sitzungen durch, aber an diesem Abend stellte er fest, dass jedes Reading seine Energie erheblich minderte, sodass die
Visionen und die Stimmen, die ihn erreichten, mehr und mehr durcheinandergerieten und undeutlich wurden. Da er wusste, dass er nicht weitermachen konnte, beendete er den Gottesdienst frühzeitig mit einer fast unverständlichen Wiedergabe von Kittys Bitte um großzügige und selbstlose Spenden. »Hier wird heute Abend Gottes Wille getan«, rief er, und die versammelte Menge brach in Lobpreis aus und klatschte.
Als die Schlussmusik aus dem Gettoblaster brauste, der in einer Ecke der Kapelle stand, drehte Sebastian sich um und verließ den Altarraum. Er sah, dass Kitty ihn im Seitenschiff erwartete. Neben ihr stand eine junge Frau, vielleicht in seinem Alter oder ein bisschen älter.
Kitty trat vor. »Du siehst müde aus«, flüsterte sie. »Bist du der Sache immer noch gewachsen?«
Er warf einen Blick auf die junge Frau, schätzte sie ab und nickte. »Ich bin okay.«
Kitty streckte die Hand aus. »Sebastian, das ist Amber. Ich hatte dir ja von ihr erzählt.«
»Hallo Amber«, sagte er.
»Hi Mr Black.« Ambers Augen glitzerten vor Begehren.
Sie schüttelten sich die Hand.
»Nenn mich Sebastian.« Ihre warme Haut beflügelte seine Lust. »Willst du mit mir kommen?«
»Ja, sehr gern.« Ihre rot bemalten Lippen lächelten und enthüllten unvollkommene Zähne.
Aber der Rest von ihr war so ziemlich vollkommen.
Als ihre Finger sich ineinander verschlangen, hörte er ihre Gedanken: Ihr war bange zumute, aber ihre Sehnsucht nach ihm trieb sie an, ihr Vater war krank und ihre Mutter war fast nie zu Hause – sie hatte schon daran gedacht wegzulaufen ...
Er drückte ihre Hand und Amber erwiderte den Druck.
»Wir gehen rüber ins Pfarrhaus und reden miteinander«, sagte Sebastian zu Kitty.
Kitty lächelte. »Aber natürlich.«
Sebastian führte Amber die wackelige Hintertreppe der Kirche hinunter und sie überquerten den Parkplatz und betraten das Pfarrhaus. Dort gingen sie über einen Flur in ein Schlafzimmer, das mit einem durchgesessenen grauen Zweisitzer und einem breiten Bett ausgestattet war, über dem eine gehäkelte rosa Tagesdecke lag.
Sebastian machte die Tür zu und schloss ab, und dann zog er Amber zum Fußende des Betts. »Du bist etwas ganz Besonderes für mich«, sagte er zu ihr, als sie sich auf das Bett setzten. »Aber ich muss wissen, ob du mich liebst.«
»Ich liebe dich«, flüsterte sie.
»Dann bist du bereit?«
Statt einer Antwort hielt sie ihm ihren Mund entgegen.
Ihr Atem war süß.
Das erneute Durchleben der Begegnung weckte Sebastians Lust, aber die Klarheit der Vision beunruhigte ihn so sehr, dass er nicht auf die Sehnsucht nach sexueller Erleichterung reagierte. Er wusste aus Erfahrung, dass das keine müßige Erinnerung gewesen war, sondern höchstwahrscheinlich eine Warnung.
Warum denkt sie an mich?
Aber er wusste warum ... zumindest vermutete er es.
Wenn es wahr wäre ... das ist etwas, das niemand je vergessen könnte .
Blinzelnd schaute er zur Decke hoch und fragte sich: Wie viele Mädchen habe ich auf diese Weise benutzt? Wie viele Jungen? Wie würde mein Leben aussehen, wenn ich das alles einfach aufgebe? Könnte ich ohne Kitty zurechtkommen? Wäre ich besser dran oder schlechter?
Da fiel ihm ein, was Ramon gesagt hatte: Harte Arbeit und
jemand, den man lieben kann, das ist es, was das Glück ausmacht.
Aber wenn er seine Position als Religionsführer aufgab, welche Arbeit könnte er dann tun?
Vielleicht konnte Libby, oder sogar
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