Prophetengift: Roman
sagte Libby. »Das ist eine furchtbare Bürde, die Sie da tragen müssen.«
Sebastian ließ den Kopf hängen und blinzelte die Tränen weg. »Woher sollte ich denn wissen, dass er so etwas tun würde? Ich habe nur versucht, diesen ›weniger Glücklichen‹ zu helfen, wie es meine geistliche Position verlangt.«
»Die Leute tun seltsame Dinge, wenn sie mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert werden«, sagte Tess. »Und manchmal tun sie noch seltsamere Dinge, wenn es um einen geliebten Menschen geht, der sterben muss.«
»Aber Tess«, protestierte Sebastian, »Sie würden Libby doch nie, niemals so etwas antun ...« Er verstummte.
Sie sahen das Wissen in seinem Blick. »Das können Sie unmöglich wissen«, flüsterte Tess mit großen Augen.
»Es tut mir leid.« Tränen rannen Sebastian aus den Augen. »Ich kann die Informationen, die ich bekomme, nicht filtern. Manchmal ist es, als ... würde ich mich durchs Fernsehprogramm zappen und bei einem Bericht über Darfur landen.«
»Meine Geschichte, oder was immer Sie davon aufgeschnappt haben, ist hoffentlich nicht ganz so trostlos«, fuhr Libby ihn an.
»Nein ... das ist es nicht«, log er schniefend. »Ich wollte nur nicht, dass Sie denken, ich hätte absichtlich Ihre Gedanken gelesen oder Sie ausspioniert. Ich kann nichts dagegen tun.« Er schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht.«
Blicke kreuzten sich über den Tisch hinweg.
»Es ist schon gut.« Tess tätschelte seine Hand. »Wir verstehen das.«
»Wie empfindet Ihre Mutter die Sache mit dieser bedauernswerten Familie?«, fragte Libby.
Sebastian putzte sich mit der Serviette die Nase. »Sie sagt, Luke wäre sowieso gestorben.«
»Na, das ist ja vielleicht menschenfreundlich«, rief Tess aus, deren Gesicht rot angelaufen war. »Es würde mich nicht überraschen, wenn sie dem Vater die Flinte verkauft hätte – mit Profit!«
»Nein, eigentlich hat es Kitty am Anfang auch ziemlich mitgenommen«, widersprach Sebastian. »Aber sie ist dann offenbar schnell darüber hinweggekommen. Ich habe vorhin mit ihr telefoniert, und jetzt macht sie sich offenbar nur noch Gedanken wegen des Prozesses, den Lukes Angehörige gegen uns anstrengen – sie ist echt sauer auf mich, weil ich nicht morgen nach Hause kommen will, um eine eidesstattliche Erklärung abzugeben.«
Abrupt schob Tess ihren Stuhl zurück. »Ich muss mal ein bisschen Dampf ablassen«, verkündete sie und stand auf. »Ich gehe jetzt mit Maxi raus, und es ist mir egal, ob ein Hurrikan
angekündigt wurde oder nicht.« Sie griff nach ihrer leeren Suppenschale und ihrem Besteck. »Wenn ich in einer Stunde noch nicht zurück bin, ruft die Küstenwache.« Damit marschierte sie aus dem Esszimmer, gefolgt von einem hocherfreuten Maxi.
Die Zurückgebliebenen stocherten geistesabwesend in ihrem Eintopf herum.
»Sie müssen ihr diesen leidenschaftlichen Ausbruch nachsehen«, murmelte Libby endlich. »Das Thema lebensbedrohliche Krankheiten ist dieser Tage ein ziemlich wunder Punkt bei uns.«
»Kann ich mir vorstellen. Wie werden Sie damit fertig?«
»Was kann ich sagen?« Libby faltete ihre Serviette zusammen und legte sie ordentlich neben ihre Suppenschale. »Mit dem Krebs leben ist, als würde man ständig darauf warten, dass der zweite Schuh zu Boden fällt – es hat einem nur niemand gesagt, dass der Mann, der oben wohnt, nur ein Bein hat. Eigentlich hätte ich schon seit zwölf Jahren tot sein sollen, also ist jeder Tag wie ein Geschenk ... oder zumindest eine gut eingewickelte Schachtel mit irgendwas Geheimem drin.« Sie schmunzelte nachdenklich. »Und weil wir im Laufe der Jahre schon so viele Freunde verloren haben, sind unsere Emotionen dick wie Schuhleder; Umgang mit Trauer ist etwas, an das wir gewöhnt sind, fürchte ich.« Sie hielt kurz inne. »Aber am meisten Sorgen macht es mir, wie Tess damit fertigwerden wird, wenn ich nicht mehr bin. Wir sind jetzt seit dreiunddreißig Jahren zusammen, wissen Sie – Sie sind also nicht der Einzige hier, der Gedanken lesen kann.« Sie holte tief Luft und schaute aus dem dunklen Fenster. »Die ganzen Jahre habe ich ihr das Frühstück ans Bett gebracht, auch dann, wenn ich wütend auf sie war und es eigentlich gar nicht wollte. Und jeden Abend, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, hatte ich ein Glas Wein für sie parat. Ich habe gewartet, bis ich das Garagentor aufgehen hörte, dann habe ich die Flasche geöffnet.« Libby schaute Sebastian an. »Wer wird
das für sie tun, wenn ich nicht mehr da
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