Prophetengift: Roman
bislang untergekommen ist, hätte bei einer Gefahr für Leib und Leben das sichere häusliche Umfeld verlassen – das heißt, solange die Gefahr nicht von innehalb des Hauses kam.«
»In meinem Fall«, erklärte Sebastian kategorisch, »tut sie das nicht.«
»Ich glaube ja, Libby hat recht wie immer«, bekräftigte Tess. »Also wovor laufen Sie noch davon?«
Sebastian schaute die beiden Frauen an und sah die ehrliche Sorge in ihren Augen. Konnte er ihnen vertrauen? Ach, was zum Teufel . »Das muss aber unter uns bleiben.«
»Natürlich«, sagten Tess und Libby wie aus einem Mund.
Er schaute von einer zur anderen. »Wir hatten keine Ahnung, dass seine Eltern so reagieren würden«, begann er. »Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich das doch nie gesagt.«
»Wessen Eltern?«, fragte Tess.
»Was haben Sie denn gesagt?«, fragte Libby.
Sebastian schwieg einen Moment und versuchte zu überlegen, wo er anfangen sollte. »Luke«, sagte er endlich. »Ein kleiner, kahlköpfiger Junge mit Leukämie. Er war zehn Jahre alt, sah aber aus wie sechs oder sieben – er litt seit Jahren unter der Krankheit und sein Körper war seitdem nicht weitergewachsen. Als seine Eltern zu mir kamen, wurde es jeden Tag schlimmer ... deshalb wollten sie meine Hilfe.«
»Sagen Sie jetzt nicht, Sie hätten Ihr Bestes getan, ihn zu ›heilen‹«, warf Tess ein, »und seine Eltern haben die Behandlung abgebrochen und er ist gestorben.«
»Nein.« Sebastian schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das hätte ich nie getan. Aber ich konnte sehen, dass seine Chancen
auf eine Genesung gleich null waren, also sagte ich zu Luke und seinen Eltern, ich kann sehen, dass der Neue Gott bereits auf ihn wartet, und es wird große Freude in der nächsten Welt geben, wenn Luke von seinem Leiden erlöst werden wird. Deine Großeltern können es gar nicht mehr abwarten, dich zu sehen, habe ich noch zu ihm gesagt, sie sind sehr stolz auf dich, weil du so tapfer bist, und du fehlst ihnen sehr.«
»Was ist daran so schlimm?«, fragte Tess.
Sebastian blinzelte heftig und blickte zur Decke hoch. »Seine Eltern waren neu in unserer Religionsgemeinschaft und gingen davon aus, dass meine Worte die absolute Wahrheit waren ... nur dass ich es mir diesmal sozusagen aus den Fingern gesogen hatte, weil sie mir einfach furchtbar leidtaten und ich nur wollte, dass sie sich irgendwie besser fühlten. Aber ich bin wohl zu weit gegangen, denn ich habe die Erinnerungen von Lukes Mutter aufgefangen und konnte daher seine ›Omi‹ und seinen ›Opa‹ genau beschreiben, bis hinunter zu dem alten Wollanzug seines Großvaters und dem Lieblingskopftuch der Großmutter – es war orange, mit einem gelbroten Paisleymuster. Ich wusste das, weil Lukes Mutter sich an diese Einzelheiten erinnerte, von den Beerdigungen ihrer Eltern her. Ihre mentalen Projektionen waren erstaunlich klar, das ist mir noch bei niemandem so begegnet.«
»Oh, oh«, murmelte Tess.
»Und was passierte dann?«, fragte Libby und nahm einen Schluck von ihrem Wein.
»Ich ... ich kann es Ihnen nicht mal sagen.« Sebastian blickte auf seine Suppenschale hinunter. »Aber Sie müssen mir glauben, ich wollte nur, dass dieser arme kleine Junge sich etwas besser fühlte. Und Sie hätten den Ausdruck auf Lukes Gesicht sehen sollen, als ich das alles erzählte – und den Ausdruck auf den Gesichtern seiner Eltern. Sie sahen alle so erleichtert aus, so verdammt glücklich, als hätte ich ihn vom Krebs geheilt. Alle
begannen zu weinen und heulten sich die Augen aus dem Kopf. Also woher hätte ich wissen sollen, was sie dann am nächsten Tag tun würden?«
Tess wollte etwas sagen, aber Libby legte ihr die Hand auf das Handgelenk.
»Sie müssen es uns nicht sagen«, sagte sie zu Sebastian.
»Doch, muss er«, konterte Tess.
»Sein Vater.« Sebastian schaute auf und seine Augen verschleierten sich mit Tränen. »Sein Vater hat ihn umgebracht . Er hat dem Jungen mit einer Schrotflinte in den Rücken geschossen, aus kürzester Entfernung. Dann hat er seine Frau erschossen und danach sich selbst. Alle drei wurden im Garten beim Zaun gefunden – er wollte im Haus keine Schweinerei anrichten, weil ...« Sebastian verstummte.
»Weil?«, fragte Tess leise.
»Weil er das Haus meiner Mutter und mir hinterlassen hat, als Dankeschön für alles, was ich getan habe.«
»Herr im Himmel«, stieß Tess leise hervor, und dann schüttete sie ihren Wein hinunter.
»Jetzt verstehe ich, warum Sie überlegen auszusteigen«,
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