Prophezeiung
Wasser.
Mavie sah sie unter Wasser, eingerahmt von gallertartigen Sternen, auf dem Rücken, mit weit aufgerissenen Augen und immernoch sperrangelweit geöffnetem Mund, als schriee sie weiter. Und sie sah das Mädchen zusammenzucken unter den ersten Schlägen, die die Berührung mit den Quallen auslösten.
Sie zögerte nicht. Sie stieß die schockstarre Karla beiseite, lehnte sich über den Rand des Bootes, streckte beide Arme nach Hannah aus und bekam das Mädchen am rechten Bein zu fassen. Sie zog und zuckte zusammen, als die ersten Quallen ihre Handrücken trafen und ihr kaltes Feuer durch ihren Körper jagten, aber sie ließ nicht los.
Sie drehte Hannah zu sich herum, griff nach dem Oberkörper des Mädchens und lehnte sich noch weiter nach vorn. Schnauzte Karla und den weinenden Max an, sie sollten sich über die andere Seite des Bootes lehnen, aber gefälligst ohne ins Wasser zu fallen, damit sie die Verletzte bergen konnte.
Aber sie hatte kein Glück. Hannah konnte ihr nicht mehr helfen, denn Hannah hatte das Bewusstsein verloren, und sie würde Karlas Hilfe brauchen.
»Komm her!«, brüllte sie Philipps Frau an und begriff im gleichen Augenblick, dass ihr für eine Bergung keine Zeit bleib. Die Barkasse kam immer näher, die Gewehrläufe deuteten in ihre Richtung. Sie musste schleunigst ihre Waffe nehmen und auf die Piraten feuern, wollte sie wenigstens Karla, Max und sich selbst retten.
Sie konnte Hannah nicht mehr helfen. Sie musste sie loslassen.
Aber das tat sie nicht.
Sie schubste Max nach rechts, in den Bug des Bootes, zwang Karlas Hände um die Handgelenke ihrer Tochter und sprang um die weinende Mutter herum, setzte sich hinter ihr auf die andere Bootsseite, verschränkte ihre Hände unter Karlas Brüsten und stieß die Füße gegen die Bootswand vor Karla. Die Mutter begriff und tat es ihr nach. Streckte die Beine durch und zog, während Mavie ihrerseits an Mutter und Tochter zog, zweimal, dreimal, in einem Rhythmus, der Hannah immer weiter über den Bootsrand ragen ließ.
Max schrie.
Hannahs lebloser Körper brachte reichlich Wasser mit. Wasser, in dem etliche Quallen schwammen.
Mavie lehnte sich weiter zurück. Bis über den Rand. So weit,dass sie die Füße von außen gegen die Bootswand stemmen konnte. Und zog erneut, im Wissen, dass Gewehrläufe auf ihren Rücken gerichtet waren.
Hannah tat ihr nicht den Gefallen, endlich sanft zurück in den Zodiac zu gleiten, so wie sie es erhofft hatte. Als sie und Karla zum dritten Mal mit vereinten Kräften zogen, sprang das leblose Mädchen förmlich aus dem Wasser über die Bootsseite, und hätte Mavie Karla nicht sofort losgelassen, wären beide Frauen zusammen auf der anderen Seite über Bord gegangen.
So stürzte nur Mavie.
Sie sah im Fallen nach links. Einzelbilder. Den schwarzen Bug der Barkasse, keine zwanzig Meter mehr entfernt. Weiter weg, ein Schlauchboot. Einen Mann mit einem Paddel, wüst auf das Wasser einstechend. Philipp.
Zwei Männer an der Reling des Kreuzers, die Arme ausgestreckt, vor den Körpern. Waffen, in ihre Richtung deutend.
Sie schloss die Augen und den Mund.
Durchschlug die Wasseroberfläche mit einem Knall, dem kurze, ohrenbetäubende Stille folgte. Dann das Geräusch eines Motors. Und dann die Schläge, in ihr, als sie die Hände nach unten drehte, um sich wieder an die Oberfläche zu bringen. Es fühlte sich an, als risse man ihr die Haut der Handflächen ab.
Sie tauchte auf und fand keine Zeit zum Schreien. Es reichte für ein Japsen und ein Wimmern und die Erkenntnis, dass sie sank. Rasch sank. Die Anglerhose mochte ein wunderbarer Schutz sein, solange man nur bis zur Brust im Wasser stand. Fiel man hinein, lief die schwere Montur von oben her voll, voll Wasser, voll Quallen, die ihren Weg fanden, unter den Stoff von T-Shirt und Jacke, auf ihren Bauch, auf ihren Rücken, unter ihre Arme, und wurde binnen Sekunden zu einer zentnerschweren Last.
Wollte sie verhindern, dass sie auf den Grund sank, brauchte sie etwas, woran sie sich klammern konnte. Sofort. Aber alles war zu weit weg. Philipp ein paddelnder Punkt auf den Wellen, fünfzig, achtzig Meter entfernt. Viel zu weit. Er hätte genauso gut auf dem Amazonas sein können. Und ihr eigenes Boot? Weg, abgetrieben, fortgestoßen von ihr selbst bei ihrem wuchtigen Flug von der Seite, außer Reichweite, selbst wenn nur fünf oder zehn Meter zwischen ihr, Karla und den Kindern lagen.
Sie sank.
Wehrte sich mit Beinen und Armen. Schwamm. Stieß mit dem Kinn
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