Prophezeiung
geschützte Podest vor dem Wall aus blühenden Bougainvillen trat, in einem beigen Anzug und perfekt frisiert, war ihm die Aufmerksamkeit und Dankbarkeit aller sicher.
Ein warmer Applaus empfing den Jubilar, der hinter das Rednerpult trat und wie ein siegreicher Feldherr sein Lächeln über die Köpfe der Anwesenden streichen ließ. Er hob die Linke, dezent, gespielt bescheiden, und wartete, bis der Beifall ganz verebbt war.
»Die wenigen unter Ihnen, die letztes Jahr hier waren, am gleichen Tag, werden sich, wenn auch mit gemischten Gefühlen, an meine Reaktion auf ihre Gratulation erinnern, mein weniger höflich interessiertes, denn wütend gekläfftes: Wozu?«
Die Gäste lachten, und Mavie sah lächelnd zu Aldo hinüber. Miletts Redenschreiber schien wieder einmal ganze Arbeit geleistet zu haben.
»Heute nehme ich Ihre Gratulationen gern entgegen. Denn es fällt mir leicht, sie als Gratulation für eine Leistung zu empfinden, die darüber hinausgeht, weitere 365 Tage am Stück CO 2 ausgeatmet zu haben. So banal es klingen mag: Für mich ist dies ein Wiedergeburtstag, und ich begehe ihn im Wissen, dass Millionen andere ihre Geburtstage in diesem Jahr im Zusammenhang mit meinem feiern. Ich empfinde das, glauben Sie mir, liebe Freunde, als große Ehre.«
Mavie zog überrascht die Augenbrauen hoch. Milett klang regelrecht bescheiden. Was war passiert, hatte er sich im Medizinschrank vergriffen?
»Wir beklagen statt der in normalen Jahren üblichen 75 Millionen Klimafolgeopfer in diesem Jahr vermutlich mehr als hundert Millionen. Das ist eine Tragödie. Allerdings eine alltägliche Tragödie, auch wenn wir in diesem Jahr dreißig Prozent über dem langjährigen Mittel liegen. Wir werden daraus auch diesmal,nachdem wir unsere Gewissen entlastet haben, mittels erschütterter Beileidsbekundungen, Blumenniederlegungen, Lichterkettenbildungen sowie der üblichen Benefizfeste unserer singenden und schauspielernden Leitbilder, keinerlei Konsequenzen ziehen. Dennoch«, fuhr Milett nach einer kurzen Pause fort, »sollten wir aus unserem berechtigten Stolz kein Hehl machen. Denn wir haben weit Schlimmeres als das alltägliche Sterben, das alltägliche Elend abgewendet. Wie viele Hundert Millionen Menschenleben sind gerettet worden? Wie viele Hundert Millionen wären heute tot, hätte ich nicht das elende Spiel rechtzeitig durchschaut, das Fritz Eisele uns allen aufzwingen wollte? Lassen wir uns das eine Warnung sein, liebe Freunde: Ein Einzelner, ein einziger Mensch, kann die Welt in den Abgrund führen, wenn es ihm nur gelingt, eine absurde Behauptung zu scheinbar gesichertem Wissen zu machen. Fritz Eisele war nicht der Fritz Rommel dieses Krieges, Fritz Eisele war Adolf Hitler. Hüten wir uns vor ihm und seinesgleichen. Hüten wir uns vor einfachen Wahrheiten, denn die Wahrheit ist nie einfach.«
Mavie wechselte Blicke mit Edward, Philipp und Thilo. So konnte die Rede nicht weitergehen, unmöglich, schon gar nicht vor diesem Publikum. Und Milett tat ihr endlich den Gefallen, in seine Rolle zurückzufinden.
»Machen wir uns nichts vor«, sagte er. »Wir haben Zeit gewonnen, aber die Welt dreht sich unbeeindruckt weiter. Wir werden keine Vernunft annehmen, wir alle werden unverändert zuerst an uns selbst denken und dann an den unbekannten anderen, erst recht an den unbekannten anderen in ferner Zukunft. Wer indes wie ich beabsichtigt, hundert Jahre alt zu werden und auch am letzten Tag noch exzellenten Rotwein zu trinken, der wird sich mir anschließen auf einem Weg zu mehr Aufrichtigkeit. Stehen wir zu unserer Schlechtigkeit.«
Er ließ den Satz nachhallen. Es war still genug.
»Stehen wir dazu, dass wir nicht teilen wollen. Dass wir nicht verzichten wollen. Dass wir, vor die Entscheidung gestellt, gut zu leben oder gut zu sein, immer das gute Leben wählen werden. Seien wir ehrlich. Bewundern wir Al Gore, aber bewundern wir ihn für das, was an ihm bewundernswert ist: dass er, ein gemachter Mann, ein Multimillionär, aus seiner vollklimatisierten Zwanzig-Zimmer-Villa in Nashville um die Welt reist, für 100 000 Dollar pro Auftritt Erderwärmungspropaganda verbreitet, um die Entwicklungsländer auf ihrem Weg zu bremsen, und ganz am Rande seine Millionen zu Milliarden macht, indem er sich in Hedgefonds einkauft, die sich am Emissionshandel bereichern. Loben wir ihn, bewundern wir ihn, aber loben und bewundern wir ihn für das, was er wirklich tut, was er wirklich ist: einer von uns. Einer von uns höchstens 600
Weitere Kostenlose Bücher