Prophezeiung
Wolken lugte, immer wieder verdeckt von noch immer vorbeiziehenden dunkleren, tiefer hängenden Regenwolken. Obwohl es nur erste Lichtblicke waren, die eine Pause versprachen. Ein paar Stunden ohne Regen. Vielleicht ein Tag. Vielleicht eine Woche.
Es tat weh.
Sie schloss die Augen.
Und spürte die Abstände zwischen den Regentropfen, die ihr nun seit einer gefühlten Ewigkeit auf Kopf und Körper getropft waren, größer werden. Größer und größer.
Eine Pause. Eine nie prognostizierte Pause.
Dumpf klang das Echo der letzten Tropfen von den Planken wider. Laut und doch gedämpft, wie durch Watte.
Es klang betreten.
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EPILOG
Selbst für südfranzösische Frühlingsverhältnisse waren 33 Grad Celsius am dritten Mai ungewöhnlich warm. Mavie hatte schon vor Beginn der Veranstaltung gezweifelt, dass Milett gut beraten war, seine Jubiläumsrede in der heißen Mittagsluft halten zu wollen, aber als er die gut hundertköpfige illustre Gästeschar auch noch warten ließ, wurde ihr bewusst, dass Ort und Zeit mit Bedacht gewählt waren.
Die meisten der anwesenden Herren trugen Anzüge. Sie behielten die Jacketts an, dem feierlichen Anlass entsprechend. Und tupften sich unauffällig Schweißperlen von der Stirn. Die anwesenden Damen, vorwiegend in teure sommerliche Kleider gehüllt, heuchelten Mitgefühl und gingen unauffällig auf Distanz zu ihren Begleitern. Nicht alle Anzüge waren zur Feier des Tages taufrisch aus der Reinigung gekommen.
»Also wirklich«, sagte Edward, der direkt neben Mavie getreten war, am Rand der Gästeschar. Auch er trug einen Anzug, auch er schwitzte und fühlte sich erkennbar unbehaglich. »An ein paar Sonnenschirme hätte er doch wirklich denken können.«
»Hat er bestimmt«, sagte sie. »Theo wird ihn darauf hingewiesen haben. Aber ohne Schirme wird doch das Verlangen nach seinem Auftritt umso größer.«
Edward runzelte die Stirn.
»Er ist noch gar nicht da«, sagte Mavie, »und schon hat er die ungeteilte, sehnsüchtige Aufmerksamkeit aller. Was will man mehr?«
»Das ist kindisch«, sagte Edward.
»Was hast du geglaubt? Dass sein neuer und vergrößerter Weltruhm ihn bescheidener werden lässt?«
»Vermutlich«, knurrte Edward. »Das muss das Alter sein, ich werde wieder naiv.«
Mavie lachte und strich ihm sanft über den Rücken. »Bleib so, bitte.«
Sie sah Thilo auf sich und Edward zukommen, durch die wartenden Gäste, von denen etliche ihn unverhohlen neidisch ansahen. Nicht nur, weil er im Gegensatz zu den meisten anderen Herren sein Jackett abgelegt hatte, sondern erst recht, weil er zwei erkennbar kühle Gläser in den Händen hielt, gefüllt mit profaner Limonade und, skandalös, Eiswürfeln.
Er blieb neben Mavie stehen, lächelnd, und reichte ihr eines der Gläser. Das andere hielt er Edward hin.
»Für mich?«, sagte Edward.
Thilo nickte in Richtung von Mavies Glas. »Ja. Wir teilen uns das andere.«
»Danke.«
»Der Butler leidet wie ein Hund«, sagte Thilo.
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Mavie. »So ein aufmerksamer und höflicher Mann.«
»Er wollte draußen Tische und Schirme aufstellen lassen, aber Milett hat klare Anweisungen gegeben: Erst nach der Rede.« Erneut nickte Thilo in Richtung des Glases in Mavies Hand. »Trink das besser schnell aus, sonst nimmt’s dir noch einer weg.«
»Glaube ich nicht«, sagte sie. »Die meisten von denen wissen doch, dass wir uns wehren können.«
»Woher?«
»Auch wieder wahr«, sagte sie und trank. Thilo hatte recht. Kaum einer der Gäste wusste, wer sie waren und dass sie eine Rolle bei Miletts Aufstieg zum Weltretter gespielt hatten. Miletts Entourage, natürlich, Aldo, Jean-Baptiste, Martha, Danielle und die Mitglieder des verhinderten Sprengkommandos. Donna Harris hatte sie begrüßt, sehr freundlich, und ihr gratuliert. Aber für Miletts wohlhabende Bewunderer und Freunde, die Maßanzüge aus der Savile Row und die Frauen mit den perfekten Botoxzügen, waren sie Unbekannte. Irgendwelche abstrusen Bekanntschaften des egozentrischen Nobelpreisträgers. Deutsche. Verehrer. Fans. Die er aus unerfindlichen Gründen zu seinem Sechzigsten eingeladen hatte.
Mavie stellte sich vor, wie die anderen aus der teuren Wäsche geschaut hätten, wären auch Diego und Paulina Miletts Einladung gefolgt. Diego wäre garantiert nicht im Anzug erschienen, und Paulina hätte spätestens jetzt, nach zwanzig Minuten Warten in der Sonne, für einen Eklat gesorgt. Aber die beiden hatten dankend verzichtet. In dem
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