Prophezeiung
mich …«, sagte Mavie und bemerkte ihren Denkfehler im gleichen Augenblick. Sie griff nach Edwards drahtlosem Festnetzapparat. Nein, Helen hätte sie eben nicht anrufen können, wenn sie vorübergehend keinen Zugriff auf ihren Account gehabt hatte, wegen eines Diebstahls des iAm. Was bedeutete, dass sie allenfalls von selbst bei Mavie angerufen haben konnte, und zwar auf deren iAm. Der allerdings auf La Palma lag und inzwischen ihren Ex-Arbeitgebern verraten hatte, was sie alles gesehen und gespeichert hatte.
Sie klickte den Nummernspeicher des Festnetztelefons an und bemerkte ihren nächsten Denkfehler. Das war nicht ihr Telefon, nicht ihr Speicher. Sie war derartig daran gewöhnt, alle Telefonnummern ihrer Freunde und Bekannten quasi auf der Handfläche mit sich herumzutragen, dass sie ohne ihren persönlichen Helfer vollständig in der Luft hing. Sie wählte die Nummer der Auskunft und ließ sich von der Computerstimme zum Hamburger Spiegel durchstellen.
Edward schmierte ihr kommentarlos ein Brötchen, schlug leise seufzend die Zeitung wieder auf und überflog blätternd, was der Mainstream an diesem Tag an Nichtigkeiten aus aller Welt für berichtenswert hielt.
Mavie landete bei einer Frau Ropp, Redaktionsassistentin. Die ihr keine Auskunft geben konnte oder wollte. Mavie fragte nach Zapf, Helens Ressortleiter, Ropp bedauerte, Zapf sei außer Haus, und Mavie erinnerte sich an den Namen von Helens redaktionsinternem Lieblingsfeind, Hilgenbocker. Nach kurzem Zögernstellte Ropp sie durch. Auch Hilgenbocker wusste nicht, wo Helen steckte, fragte aber aufmerksam nach, worum es denn ginge. Was Helen freundlich als privat bezeichnete. Sie diktierte Hilgenbocker Edwards Nummer und bat ihn, Helen auszurichten, dass sie angerufen hatte. Er versprach es, gelangweilt.
»Ich denke«, sagte Edward, nachdem sie aufgelegt hatte, »wenn du hier fertig bist, brauche ich eine neue Festnetznummer.«
»Wer hört dich denn ab?«
»Alle Teilnehmer am Kongress werden abgehört.«
»Oha. Weil sie die Wahrheit über Area 51 wissen?«
»Möglich.«
»Und die Wahrheit über 9/11, Kennedy, Pearl Harbor, den Irak, die Geldverschwörung und über alles, was so läuft.«
»Vieles, ja. Aber das meiste ist ja kein Geheimnis. Erst wenn Leute Dinge herauskriegen, die nicht an die Öffentlichkeit gehören, verschwinden sie.«
»Oder werden auf offener Straße erschossen.«
»Nur Journalisten. Und auch nur, wenn man sie nicht spurlos verschwinden lassen kann.«
»Paps, du bist … irre. Aber ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch. Trotz deiner kompletten Fehleinschätzung.«
»Was machen die Eidechsenmenschen?«, fragte sie lächelnd und hoffte, ihn endlich zum Lachen zu bringen. Aber Edward schüttelte nur den Kopf.
»Nicht mein Thema. Ebenso wenig wie Kassiopeia. Knight Jadczyk war in Berlin und hat ihre Theorie vorgetragen, die ganze secret history of the world, aber mir ist das – trotz der durchaus logisch klingenden Entwicklung der Indizienkette –, entschieden zu unwissenschaftlich. Ich bleibe hier, auf der Erde und auf dem Boden der Tatsachen. Und bei den menschlichen Motiven. Gier verstehe ich. Machthunger. Ich verstehe sogar Opfer und Liebe. Aber Aliens nicht.«
Sie nickte. Sie kannte den Vortrag. Follow the Money. Und du findest alle Antworten auf alle Fragen. Das hatte sie oft genug gehört. Oder mindestens einmal zu oft. Aber Edward war in seinem Element, und so hörte sie zu. Mit einem Ohr, während sie sich ein weiteres Brötchen schmierte und einen verstohlenenBlick auf die Titelseite der Tageszeitung warf, die vor ihm lag. Edward erzählte. Geschichten vom Ende der Welt. Nicht vom anderen Ende der Welt. Vom Ende der ganzen Welt. Das Geld, das sie ausgaben, sei schon lange nichts mehr wert, im Grunde seit der Aufkündigung des Bretton-Woods-Abkommens Anfang der 1970er-Jahre, aber seit 2008 endgültig, seit der totalen Kapitulation der Menschheit vor dem Bankensystem. Die letzte große Bombe werde demnächst platzen und nur noch Trümmer hinterlassen. Altersarmut, das Ende der Mittelschicht und aller sozialen Netze, das Ende jedes Zusammenhalts, elend verreckende Rentner und Kinder in den Gossen, Leben in Pappkartons, gated communities für die Reichen, Brasilien weltweit: im Helikopter über die tödlichen Slums auf die Dächer der gut gesicherten Malls. Die USA ein vollkommen gesetzloses Land, der Mittlere Westen Dantes Vorhölle, der Atomkrieg unausweichlich. Hunderte Millionen Tote. Milliarden. Ganz Afrika
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