Prophezeiung
beherrscht. Wie die eines Cop, der es zum letzten Mal im Guten versuchte, ehe er den Verdächtigen zusammenschlug. »Du weißt nicht zufällig, was sie da gemacht hat?«
»Nein«, sagte Mavie. »Nein, ich …« Sie wollte das alles nichtwissen. Sie wollte wissen, dass Helen am Leben war. Und erst recht wollte sie wissen, dass sie selbst nichts mit alldem zu tun hatte.
»Weißt du, mit wem sie gesprochen hat?«, fragte sie.
»Was?«
»Hast du ihren iAm?«
»Nein. Den hat die Polizei, aber der ist defekt. Angeblich irreparabel, das sehe ich gleich, ich darf ihre Sachen abholen. Es gibt ja keinen Fall, nur einen Unfall. Aber den iAm brauche ich nicht, ich habe die Daten sowieso.«
Mavie kam nicht dazu, ihn zu fragen, woher.
»Wer ist Felix?«, sagte er.
»Ein … Verehrer.«
»Den du kennst.«
»Nein. Sie hat mir von ihm erzählt, ja.«
»Gestern.«
»Vorgestern, wir haben telefoniert …«
»Ich weiß. Aber ich weiß auch, dass du garantiert mehr weißt als ich. Zum Beispiel über Felix. Und wer hinter diesen ganzen Telefonnummern steckt – und was sie bis mitten in der Nacht in Lüneburg gemacht hat. Und ich will wissen, wer meine Schwester mit 1,8 Promille umgebracht hat. Um sechs in meiner Wohnung, du weißt ja, wo.« Er legte auf, ohne sich zu verabschieden.
Mavie ließ den Apparat sinken und sah fassungslos ins Leere. Es konnte nicht sein. Es war nicht möglich.
Sie sprach es aus. »Helen ist tot.«
Sie hoffte, ihr Vater würde sich treu bleiben. Ihr sagen, dass das nichts mit ihr zu tun hatte, nichts mit ihr zu tun haben konnte, mit ihrer idiotischen eingebildeten Verschwörung, mit Prometheus , mit dem IICO .
Edward schwieg. Dass sein ernstes Gesicht erheblich an Farbe verloren hatte, machte nichts besser.
Mavie stand auf.
»Ich brauche dein Auto.«
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14 Sie stellte den winzigen Neo zwischen Kofferraum und Motorhaube zweier großer BMW s ab, direkt vor dem Glaskubus am Hafen, in dem sie keine zwei Wochen zuvor ihren fröhlichen Aufbruch in eine neue Zeit gefeiert hatte. Es kam ihr vollkommen absurd vor, als hätte nicht sie das erlebt, als gehörte ihr früheres Leben nicht mehr zu ihr. Denn die Frau, die den größten Teil ihres Erwachsenenlebens behütet und in akademischen Kreisen zugebracht hatte, konnte nicht dieselbe sein, die wie eine Kriminelle behandelt wurde und deren Freundin offensichtlich ihretwegen umgebracht worden war.
Ihretwegen?
Ihr Blick fiel auf den Beifahrersitz, auf die neue Tasche und die fünf Tüten, die sie auf dem Weg eingesammelt hatte. Minimale Basisausstattung einer Ausgesetzten. Unterwäsche, zwei T-Shirts, ein Pullover, eine Jeansjacke, Drogerieartikel, ein einfaches Handy mit Prepaid-Karte. Nichts davon hatte mit ihrem Leben zu tun. Aber sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ihr früheres Ich zurückzubekommen. Edward musste einfach recht haben. Es handelte sich um eine Simulation, nicht um eine Prognose. Und Helens Tod konnte nichts mit dem IICO zu tun haben. Mavie wusste, dass sie ihrem Kummer nicht würde entkommen können, aber noch konnte sie daran glauben, die Angst wieder loszuwerden, die sie nahen spürte. Eine Angst, die sie nur mit Mühe auf Distanz hielt.
Durch den warmen Dauerregen lief sie die Treppen hoch zum Eingang, drückte auf den obersten Klingelknopf neben den Initialen »PvS«. Die schwere Tür summte leise, sie drückte sie auf, trat in den Marmorflur und fuhr mit dem verglasten Lift nach oben.
Philipp erwartete sie in der Tür seines Apartments. Sie ging auf ihn zu, bemerkte seine bandagierte Hand und umarmte ihn wortlos. Sogar die Umarmung fühlte sich falsch an. Die Frau, die sie bis vorgestern gewesen war, die Frau aus der heilen Welt, hätte ihn niemals so nah an sich herangelassen.
Aber er war es, der die Umarmung fast sofort wieder auflöste. Ein kurzes Drücken, sachlich, dann schob er sie an den Schultern ein Stück von sich weg, sah sie ernst an, trat beiseite und bat sie mit einem knappen Nicken herein.
Sie ging voraus, sah sich fragend um, und er deutete auf die flachen Sofas vor dem Kamin, in dem ein Feuer brannte. Die Umzugskartons waren verschwunden, die Einrichtung war dezent geblieben, elegantes, reduziertes Design. Sie nahm Platz, er holte eine Flasche Wasser und zwei Gläser vom Tresen und setzte sich ihr gegenüber in den Ledersessel. Ein Stapel Ausdrucke lag vor ihm auf dem Couchtisch, Text und Karten, soweit Mavie erkennen konnte, bearbeitet mit gelbem Marker und verziert mit reichlich
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