Prophezeiung
kommen, genauso wie dramatische Abkühlungen, und das, weltweit, tatsächlich über Nacht.«
»Na ja, nicht wirklich ›über Nacht‹.«
»Fünf Grad binnen fünf Jahren? Das ist ›über Nacht‹. Und das neue Klima bleibt dann eine Weile, mal ein Jahrtausend, mal ein halbes Jahrhundert, um ebenso abrupt wieder zu enden. Fahr in den Mittleren Westen der USA und sieh dir die Baumreste an, die im Wasser der Seen stehen. Um 900 nach Christi sinken die Wasserspiegel ›über Nacht‹ um dreißig Meter, direkt am Ufer wachsen Bäume, hundert Jahre später steigen die Spiegel ›über Nacht‹ wieder massiv an, auf den Stand von 900, und die Bäume ertrinken. Frag deine Freunde, die Dendroklimatologen mit ihren Baumringen, die können dir die exakten Jahre verraten …«
»Ich weiß. Aber nicht den Grund.«
»Nein.«
»Und den kennt Prometheus ?«
Thilo schwieg einen Augenblick. »Es scheint, wie in der Vergangenheit, so zu sein, dass uns die Sonne deutlich mehr einheizt, als wir vertragen können.« Er sah Mavie an. »Erinnerst du dich an Amy Clements Simulationen?«
Mavie nickte. Clement hatte im Modell mit dem normalen, zyklisch von der südlichen Oszillation getriebenen Wechsel zwischen El Niño und La Niña gespielt und eine stärkere Sonneneinstrahlung in einer La-Niña-Phase simuliert. Mit dem wenigüberraschenden Ergebnis, dass das Oberflächenwasser im Pazifik sich erwärmt hatte, aber auch mit dem völlig überraschenden Ergebnis, dass die »kalte Zunge« im ostäquatorialen Pazifik kälter und länger geworden war. Was zu einer Verlagerung des ostafrikanischen und indischen Monsuns nach Norden und damit zu einer katastrophalen Dürre in Ostafrika und Indien geführt hatte.
Im Modell.
Sie schüttelte den Kopf. »Aber auch das … das reicht doch nicht. Es kann nicht alles Folge der Sonneneinstrahlung sein …«
»Doch, durchaus«, sagte Beck. »Mit allen Konsequenzen, die wir aus der Geschichte kennen. Erinnere dich an die Warmzeit mitten in der letzten kleinen Eiszeit – ungeklärte Ursache, bis heute. Und damals hatten wir nur eine temporär erhöhte Strahlung von etwa einem halben Watt pro Quadratmeter der Erdoberfläche. Diesmal müssen wir von anderthalb Watt ausgehen.«
Mavie schwieg. Erschüttert. Anderthalb Watt mehr pro Quadratmeter, das war eine Zahl, die sie gelegentlich gelesen hatte. Allerdings in Prognosen, die niemanden betrafen, Prognosen für eine Zeit nicht in hundert Jahren, sondern zig Millionen Jahren, wenn die Sonne sich final aufflackernd auf den langen Weg zum galaktischen Sonnenfriedhof machte.
Beck schien allerdings nicht sonderlich beeindruckt von den drohenden Folgen, sondern war inzwischen längst in seinem akademischen Element. »Gerrittsen ist ein Genie«, sagte er, »wirklich. Der G z , den du vermutlich in den Menüs gesehen hast, unter den anderen Zyklen, ist sein eigener, und der hat es in sich, denn in ihm sind alle bekannten Zyklen berücksichtigt, Milankovic, Schwabe, Dansgaard, das El-Niño-Phänomen und der ganze Rest, zum ersten Mal vereinheitlicht in einem stimmigen Modell und den dazugehörigen Algorithmen – sowie ein paar Zyklen, die bislang als reine Astrologie galten.« Er legte sich die Hand in den Nacken und kratzte sich kurz, nachdenklich, um einschränkend hinzuzufügen: »Nur muss man natürlich sagen, dass auch ein weniger genialer Wissenschaftler genau das hätte entwickeln können, mit den Daten, über die Bjarne exklusiv verfügt. Er ist der Einzige, der vom Sono oben auf dem Roque die entsprechenden Daten bekommt, und ich meine nicht der einzige Wissenschaftler, sondern praktisch der einzige Mensch. Was eine Frage aufwirft …«
Er verstummte, beschloss offenbar, die Frage als nebensächlich hintanzustellen, und verschränkte wieder die Hände auf den Knien. »Tatsache ist: Die Prognose steht, und offenbar basiert sie auf Fakten. Prognostiziertes Minimum des letzten Schwabe-Zyklus war 2007, danach hätte die Sonne wieder aktiver werden müssen, aber stattdessen hat sie ihre Aktivität förmlich ganz eingestellt, wie zuletzt Mitte des 19. Jahrhunderts, soweit wir wissen. Deshalb die unerwartete Abkühlung von 2004 bis 2011. Bjarnes Vergleich ist diesbezüglich treffend. Die Sonne hat sich jahrelang förmlich etwas aufgespart, es gab keinerlei Sunspots, keine Sonnenwinde, gar nichts. Totale Ruhe. Wie vor einem Sturm oder einem Erdbeben, wie unter Haiti, 2010, kurz bevor sich die Spannung in den Platten mit einem Schlag löste. Und wann immer
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