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Prophezeiung

Prophezeiung

Titel: Prophezeiung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Böttcher
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gelegentlich, wie aus dem Nichts, Gesichter aufblitzten, Bilder, sinnlos. Philipp, an der Bar. Nicht dort, wo er sein sollte. Beck, vor dem Kamin. Gerrittsen, Eisele, die Bodyguards. Ein Mann mit einem kleinen Koffer, im falschen Zimmer. Das New York . Die Fenster ihres Zimmers, vom Wasser aus gesehen. Das Deckenlicht, aufflammend, das Signal, dass jemand das Zimmerbetreten hatte. Ein behandschuhter Finger auf einer Handytastatur. Eine Sessellehne, sehr nah. Leder. Philipp. Nicht an der Bar. Sein Gesicht direkt vor ihrem.
    Die Stimme des Mannes passte nicht. Nicht zu den Bildern, nicht in die dunkle Nacht, nicht zum Aufstieg, nicht zur Folter. Sie klang nicht angenehm, sie klang nicht hässlich, sie klang nur sachlich. Und sagte Worte, die Mavie nicht richtig begriff. Boston und Überschwemmungen und Notstand. Osten und Polen und Deiche. Stromausfall und Prag. Schlammlawine und Harz. Binz und Seefangzaun. Sommergäste und Quallenplage. Bald und Ende und Regen.
    Die Stimme klang, als hätte sie keine größeren Sorgen. Sagte Flüchtlinge, sachlich. Asyl. Wasser und Brot. Humanitäre Hilfe und Luft und Helikopter.
    Die französische Regierung sagte Nein, Holland auch.
    Holland?, dachte sie. Das sagte ihr etwas, das war nicht nur ein Wort, das bedeutete etwas. Nur was?
    Berlin prüfte die Optionen. Eine humanitäre Lösung.
    Sie hörte eine andere Stimme, die einer Frau, eine unerfreuliche Stimme, die Völkergemeinschaft sagte und Pflicht. Die Frau klang wie eine sehr alte Schülerin, die auswendig Gelerntes vortrug und immer nur eine Drei bekam, nie eine Vier, nie eine Zwei.
    Und dann öffnete Mavie die Augen und sah das Schiff, wie ein Hochhaus auf den Wellen. Die Flüchtlinge an der Reling, tausende. Schwarze Gesichter, Körper in Lumpen. Kleinere Boote, die das Hochhaus begleiteten. Graue Boote, Rohre am Bug, himmelwärts gerichtet.
    Der sachliche Mann sprach wieder, und diesmal hatte er ein Gesicht. Und einen Oberkörper. Er saß vor einem bunten Bild, einem goldenen Pfeil, der auf rotem Grund aufwärts zeigte, himmelwärts, die Spitze zwischen goldenen Sternen. Die Stimme sprach von China. Und dann verstummte sie, und Mann und Pfeil und Sterne und Rot verschmolzen zu einem winzigen Regenbogenpunkt im Schwarz, der rasch verblasste und verlosch. Und sie sah ein Gesicht, nah, über sich, das sie erkannte.
    »Hey«, hörte sie ihn sagen, sanft. Erleichtert. Warum?
    »Hey«, versuchte sie es, aber heraus kam nur ein stimmloser Laut.
    Sie spürte kalte Flüssigkeit auf ihren Lippen, und der Geschmack des klaren Wassers raubte ihr fast die Sinne. Sie ließ es sich in den Mund laufen, mit geschlossenen Augen, und schluckte. Dann sah sie ihn wieder an. Seine Hand lag auf ihrer Stirn. Streichelte sie sanft.
    Sie schloss die Augen wieder. Wollte alles wissen.
    Als sie ihn wieder sah, war das Licht anders. Das Licht im Raum. Lampenlicht, was vorher Sonnenlicht gewesen war. Und diesmal blieb sie bei sich. Versuchte sich aufzurichten, ließ sich von ihm helfen, nahm ihm das Wasserglas aus der Hand und sah die Braunüle in ihrem Handrücken, den Schlauch, der nach links oben führte, in den Himmel, wo ein Plastikbeutel hing, mit weißem Etikett, darunter ein grünes Rädchen in weißem Hartplastik, das Tropfen freigab.
    »Wo bin ich?«, fragte Mavie.
    »Lange Geschichte«, sagte Philipp.
    »Hab’s nicht eilig«, sagte sie.
    »Das ist gut«, sagte er, leise lachend. »Du hättest mir auch gefehlt.«
    »Was ist passiert?«
    Er zögerte. »Ein Sprengsatz.«
    Sie schloss die Augen. Und sah den Raum wieder vor sich, den letzten Moment, den sie noch wahrgenommen hatte. Den kleinen Koffer. Beck, der sich nach rechts beugte, Richtung Fenster, Richtung Boden, und sein iPad aus dem großen Koffer zog, sein Mund, sprechend, die Sessellehne vor ihren Augen.
    Ein Riese, der eine Kerze aushauchte.
    »Wo ist Beck?«
    Sein Lächeln machte einem verwunderten Blick Platz.
    »Wer?«
    »Beck.«
    »Beck?«
    »Er war in dem Zimmer.«
    Er runzelte die Stirn. »Sicher nicht.«
    Sie versuchte ebenfalls die Stirn zu runzeln, aber das schmerzte. Sie griff sich an die Stirn, auf einen Verband. »Natürlich war er da«, sagte sie.
    »Okay.« Er lächelte wieder. Und seine Hand berührte ihren Unterarm, sanft, streichelnd. »Das besprechen wir in Ruhe. Erst mal bin ich froh, dass du wieder da bist. Noch und wieder.«
    »Wie lange hab ich geschlafen?«
    »Vier Tage.«
    Sie wandte den Kopf nach links. Ein zweites Krankenbett, neben dem Fenster, leer. Vor den

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