Prophezeiung
Tage, wie üblich. Natürlich macht es den Leuten langsam Sorgen, dass das Wasser permanent steigt. Der Fischmarkt ist überschwemmt, die Gebiete im weiteren Verlauf der Elbe stehen ebenfalls unter Wasser, aber man hält das aus Erfahrung für ein temporäres Problem. Niemand ahnt, was uns bevorsteht. Vielleicht will es auch einfach keiner wissen oder sich vorstellen. Und die wenigen warnenden Stimmen dringen nicht durch, dazu haben wir in der Vergangenheit zu oft blinden Alarm gegeben. Schweinegrippe, Hühnergrippe, Waldsterben – das ganze grundlose Geschrei hat uns taub gemacht. Aber spätestens in ein paar Tagen steigt die Kloakeaus den Kanälen, und ich denke, dann wird alles sehr schnell gehen.«
»Wir werden die Leute vorher warnen können. Sofern Milett mitmacht.«
»Das wird er. Nur bin ich nicht sicher, was die Warnung bewirken kann. Außer Panik.«
Mavie schwieg.
»Versteh mich bitte nicht falsch«, sagte Edward. »Natürlich müssen wir die Leute warnen. Wir können nur hoffen, dass sie dann vernünftig reagieren. Dass es einen Notfallplan gibt – und dass die Leute sich ruhig und gesittet daran halten. Andernfalls ist hier Land unter, und garantiert nicht nur in klimatischer Hinsicht.«
»Wie du schon sagst«, meinte Mavie. »Wir haben keine Wahl.«
»Nein«, sagte Edward. »Die hatten wir viele Jahre lang. Jetzt nicht mehr.«
»Pass auf dich auf«, sagte sie. »Bleib auf deiner Endmoräne, du wohnst weit weg von jedem potenziellen Bürgerkrieg und erst recht hoch genug über dem Elbspiegel.«
»Ich nehme das als Kompliment an meine Weitsicht. Und nehme dir nicht übel, dass du mich all die Jahre für einen alten Narren gehalten hast.«
»Danke«, sagte sie lächelnd, verabschiedete sich und legte auf.
Philipp sah sie an. »Und?«
»Hoffen wir, dass das was bringt. Milett.«
Philipp sah sie weiterhin an. Und obwohl sie todmüde war, funktionierte ihr Selbsterhaltungstrieb noch immer tadellos. Sein Blick ging eindeutig in die falsche Richtung. »Guck mal nach vorn.«
Er tat es, mit einem leisen Lachen. »Keine Sorge, das Ding fährt quasi von allein.«
»Ich glaube nicht, dass es von allein wieder aus einem Graben fährt, wenn du mit 200 Sachen reingeknallt bist.«
»Wozu gibt’s Leitplanken?«, sagte er und sah sie wieder an. Diesmal wandte er den Blick aber gleich wieder nach vorn.
Mavie betrachtete ihr Handy, wusste, wen sie anrufen musste, und wusste im gleichen Augenblick, dass sie das nicht konnte. Der Grund war erschütternd trivial. Thilo Becks Handynummer war in ihrem alten iAm gespeichert, nicht in ihrem Kopf.
»Wir brauchen Becks Nummer.«
Philipp nickte. »Haben wir.« Er tippte auf den am Armaturenbrett festgekletteten neuen Sony-PA . Ihren fragenden Blick beantwortete er, ohne sie anzusehen. »Im Gegensatz zu dir habe ich in den letzten Tagen nicht geschlafen. Und ich hab nicht nur weiter gesammelt, wer dein IICO finanziert, Lisa hat auch Becks Nummer rausgekriegt. Sie hat sogar die von Gerrittsen, was gar nicht so einfach war, aber da springt zuverlässig immer nur die Mailbox an. Und da spreche ich garantiert nicht drauf, Hey, Drecksau, hier ist der Typ, der dich killen will – wo bist du? « Er reichte ihr den PA . »Bitte.«
Mavie wählte die Nummer. Und wartete. Nach sechsmaligem Klingeln sprang Becks Mailbox an. Mavie bat ihn müde um umgehenden Rückruf, diktierte die Nummer ihres neuen Handys, legte auf und wünschte sich dringend ein Kissen, eine Decke und eine bequemere Liegefläche als den Ledersitz. Sowie ihr altes Gehirn zurück, das Modell ohne diese dumpfe Slow-Motion-Funktion.
»Sparsam mit deiner Nummer«, sagte Philipp.
Sie sah ihn verärgert an. Den Text kannte sie auswendig, allerdings aus dem Mund ihres Vaters, und damals war sie dreizehn gewesen. »Wie soll er mich sonst anrufen?«
»Brillant gedacht. Nur: Wenn er sein Handy gar nicht mehr hat, zum Beispiel weil er tot ist, dann haben unter Umständen die sein Handy. Und dann haben die jetzt deine Nummer, und dann finden die ziemlich schnell raus, wo das da«, er deutete auf ihr Prepaid-Handy, »ist. Und wohin es sich bewegt.«
»Ja«, sagte sie gelangweilt. Dieses Szenario erschien ihr erschütternd reizlos. Sie wollte einfach nicht darüber nachdenken, denn wenn die Thilo und dessen Festplatte und Unterlagen hatten oder Thilo schlicht und ergreifend aus dem Fenster in die Maas explodiert und ertrunken war, fehlte ihr alles, um wenigstens eine Chance zu haben, Milett zu gewinnen. Mit ihrem
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