Prophezeiung
sich, diese Hoffnung keiner kritischen Prüfung zu unterziehen. Ohne Becks Informationen hatte sie nichts in der Hand. Nichts außer einem Mem-Stick, den sich jeder fleißige Idiot selbst zusammenbasteln konnte, einem Anschlag, der laut Presse keiner gewesen war, und dem Unfalltod einer betrunkenen Journalistin. Nicht direkt ein überzeugendes Angebot für einen Nobelpreisträger, der seit Jahren die Öffentlichkeit mied. Aber vielleicht war Milett ja tatsächlich ein so kluger, wunderbarer und unbestechlicher Menschenfreund, wie Edward behauptete.
Sie wählte die Nummer ihres Vaters.
Edward Hellers »Ja?« klang müde, unverändert.
»Hast du ihn erreicht?«, fragte sie.
»Eben«, sagte er. »Ja, ich habe kurz mit ihm sprechen können, ich wollte dich gerade anrufen.«
»Das heißt, er erwartet uns.«
Edward schwieg einen Augenblick. Einen Augenblick länger, als ihr lieb war. »Ja«, sagte er schließlich. »Er weiß, dass ihr kommt, er weiß, wer ihr seid, und er wird euch empfangen, denke ich.«
»Wie, denkst du?«
»Er … klang nicht ganz so freundlich, wie ich ihn in Erinnerung hatte.«
»Edward?«
»Herrgott«, sagte er gereizt. »Es war kein erfreuliches Gespräch. Ganz und gar nicht. Mir ist durchaus bewusst, dass ich nicht der Dalai Lama bin oder Bill Clinton, aber, nein, das war eines Nobelpreisträgers unwürdig. Leland Milett mag noch immer intelligent sein, das kann ich nicht beurteilen, aber höflich ist er nicht.«
»Das heißt was – er hat dich beschimpft?«
Mavie wechselte einen Blick mit Philipp, der verwundert die Augenbrauen hochzog, ohne den Blick von der Autobahn zu wenden.
»Er hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, welches Interesse er an mir und meinen Ausführungen hat. Oder an deinen.«
»Korrigier mich, aber das heißt: Wir kommen nicht mal rein?«
»Ich habe mich beherrscht. Ich war sehr höflich, Mavie. Ich habe ihm deutlich gemacht, welche Mühen und welch weiten Weg ihr auf euch genommen habt, um mit ihm sprechen zu können. Ich werde nicht wiedergeben, was er darauf erwidert hat, aber er wird euch empfangen.«
Mavie atmete erleichtert aus. »Okay, immerhin.«
»Fünf Minuten«, sagte Edward.
»Bitte?«
»Seine Worte«, sagte Edward. »Die anderen behalte ich für mich.«
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23 Die weiß gekalkte Mauer zur rechten Straßenseite des Boulevard du General de Gaulle war großzügig von Bougainvillea überwuchert, deren unzählige Knospen förmlich darauf zu warten schienen, Blüten in die warme Frühlingsluft explodieren zu lassen. Vom hinter der Mauer liegenden Haus sah man lediglich die hinter Palmwipfeln halb verborgenen Terracotta-Dachziegel vor einem Hintergrund aus blauem Himmel und blauem Meer, die Zufahrt führte hinter einem hohen Eisentor nach unten, in den Steilhang an der Westseite des Cap Ferrat.
Philipp stellte den Wagen direkt vor dem Tor ab und nickte anerkennend. »Der muss aber sein Preisgeld gut angelegt haben.«
Mavie nickte und betrachtete ebenfalls beeindruckt Miletts Anwesen. Sie hatte nicht damit gerechnet, unter der von Edward angegebenen Adresse eine Mietskaserne vorzufinden, aber auch nicht mit einer solchen Villa.
»Tippen wir mal auf rechtzeitig Apple gekauft «, sagte Philipp und stieg aus.
Mavie sah ihm zu, wie er auf den Steinpfeiler zwischen großem und kleinem Eisentor zuging und auf den Klingelknopf über der Gegensprechanlage drückte. Sie öffnete das Handschuhfach, fand, wie sie gehofft hatte, den zerlegten Plastikrevolver, ließ ihn in ihre Tasche gleiten und schloss das Handschuhfach wieder. Falls Philipp selbst daran dachte, den Revolver einzustecken, wäre sie ihm nur zuvorgekommen. Falls nicht, würde sie die Waffe einfach für sich behalten, in doppelter Hinsicht.
Philipp sprach kurz mit einem unsichtbaren Gegenüber, dann begann das Eisentor zur Seite zu gleiten und gab den Weg frei. Philipp stieg wieder ein, löste die Handbremse und ließ den BMW auf die Säulen vor dem Haus zurollen. »Sehr freundlicher Butler«, sagte er lächelnd. »Will ich auch.«
Der Butler war tatsächlich einer und öffnete die Haustür, als sie aus dem Wagen stiegen. Er trug zwar keine Livree, sondern einen grauen Anzug, aber jede seiner Bewegungen verriet, dass er seine Ausbildung mit Auszeichnung bestanden hatte. Er stellte sich höflich und mit feinstem Oxford-Akzent als Theo vor, bat der Form halber um Erlaubnis, vorausgehen zu dürfen, und verkündete, Mr Milett erwarte sie bereits und werde gleich bei ihnen sein.
Theo
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