Prophezeiung
Sonne ihre Tagesreise beendete, und unter anderen Umständen hätte Mavie sich einfach nur hinsetzen wollen, eine Weile die Aussicht genießen und anschließend auf die Leitern steigen, um sich anzusehen, welche Kostbarkeiten sich in den Regalen verbargen. Ein zweisitziges und ein dreisitziges dunkelbraunes Ledersofa standen in der rechten Ecke des Raumes, der Schreibtisch vor den Fenstern, sodass Milett von seinem Arbeitsplatz auf die Tür blickte. Feng Shui hielt er also offensichtlich für überschätzt.
Der Nobelpreisträger trat an den Servierwagen, der neben dem Dreisitzer stand, und griff nach einer der darauf stehenden dunkelbraunen Flaschen. »Lagavulin?«, fragte er.
Philipp nickte. »Gern.«
»Für Sie, Mademoiselle?«, fragte Milett.
Mavie wollte sich nicht die Blöße geben, nach einem Prosecco zu fragen. »Dasselbe«, sagte sie. »Gern.«
Sie konnte den Blick nicht von dem großformatigen, in gebürstetem Stahl gerahmten Bild wenden, das auf dem Boden vor dem Schreibtisch stand, gegen die Arbeitsplatte gelehnt. Es war kein Kunstwerk, sondern ein Poster. Ein grellbuntes Motiv, das die second sesason einer Fernsehserie ankündigte, The Girls from India. Dem autogrammgeschmückten Plakat nach zu urteilen, das zwei hübsche Inderinnen und diverse andere hübsche Menschen in Arztkitteln und Anzügen vor der New Yorker Skyline zeigte, handelte es sich nicht um ein Programm für herausragende Intellektuelle.
»Eine Telenovela«, sagte Milett und drückte ihr den Whisky in die Hand.
»Und das sehen Sie gern?«
»Ich sehe das gar nicht«, sagte er halb indigniert, halb belustigt. »Ich unterstütze es finanziell.«
»Verstehe«, log sie.
»Ein Riesenerfolg, gerade in Indien und dort in den ländlichen Regionen. Oster und Jennings haben ja bereits 2008 eindrucksvoll nachgewiesen, dass sich die Geburtsraten überall dort halbieren, wo Fernsehkabel verlegt werden. Wir dürfen davon ausgehen, dass das an dem von uns vermittelten Frauenbild liegt – immerhin sind unsere Indian Girls insofern vorbildlich, als sie es nicht als Naturgesetz betrachten, von ihren Männern verprügelt zu werden, und sie werden nicht nach jedem Beischlaf zwangsläufig schwanger. Fernsehen ist das mit Abstand wirksamste Mittel zur Geburtenkontrolle, kein Pillen-und-Kondome-Verschenkprogramm kommt in der Hinsicht gegen eine hinreichend demente Telenovela an. Und die Zuschauerinnen sind netter zu ihren weniger zahlreichen Kindern. Manche lassen die Mädchen sogar zur Schule gehen.«
Philipp war neben die beiden getreten und betrachtete ebenfalls das kitschige Poster. »Hm«, sagte er. »Kabel? Da läuft doch bestimmt auch viel Sport.«
Mavie sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren, aber Milett lachte schallend. »Exzellent!«, sagte er. »Sie haben völlig recht, es könnte auch daran liegen.«
Philipp sah Mavie an und zuckte entschuldigend die Achseln.
Milett wies auf die Sitzecke. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Mavie und Philipp setzten sich nebeneinander auf den Dreisitzer, Milett auf das Zweiersofa. Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.
»Bjarne Gerrittsen«, sagte er, lächelte und wiegte leicht den Kopf hin und her. »Dieser überhebliche kleine Mann. Mit sicherem Blick für sein eigenes Fortkommen und das Dekolleté jeder Praktikantin. Daran hat sich vermutlich nichts geändert?«
»Nein«, sagte Mavie. »Sie kennen ihn offenbar schon länger?«
»Kennen? Gott bewahre. Ich möchte ihn nicht kennen, schon gar nicht näher. Wir sind uns ein- oder zweimal begegnet, als ich Anfang 2000 zum IPCC kam, in die Werbeabteilung des Teufels. Gerrittsen hat damals vorgetragen, woran er arbeitet und was er zu erreichen hofft, ich habe ihn, offen gestanden, für einen Wichtigtuer gehalten, aber mit dieser Ansicht stand ich fast allein – wie mit den meisten meiner Ansichten. Es wundert mich aber nicht, dass er jetzt über ausreichende Mittel für seine Forschung verfügt, er konnte sich immer gut verkaufen.«
»Aber Sie haben nicht seinetwegen beim IPCC aufgehört?«
»Nein«, sagte Milett. »Das hatte eine Reihe von Gründen. Auch persönliche.« Er verstummte, überlegte kurz und kam dann mit einem Kopfschütteln zum Entschluss, den möglichen Exkurs auszulassen. »Vor allem fachliche. Ich konnte diese Propagandalügen nicht mehr mittragen, all diese grotesken Verdrehungen, und als wir auch noch den Nobelpreis für unsere Falschdarstellung der Problematik erhalten sollten, musste ich mich
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