Prophezeiung
Moskitonetz sah sie im Licht der Beleuchtung unten im Garten einen Mann in weißem Overall zwischen den Pflanzen stehen, mit einem Kanister in der einen Hand und einer Sprühpistole mit langem Lauf in der anderen. Sein Gesicht war von einer Gasmaske verborgen, sein Kopf ebenfalls weiß bedeckt, von einer Art Sturmhaube. Was auch immer er dort unten gegen das Ungeziefer einsetzte, wirkte offensichtlich auch effektiv gegen Menschen.
Auf dem Meer, weiter draußen, waren noch immer diverse Schiffe unterwegs, auch jetzt, nachdem die Sonne untergegangen war. Fähren, Jachten, Motorboote sowie, noch weiter in Richtung Horizont verschoben, größere Boote, grau vor dem blaugrauen Himmel. Sie konnte sie nicht genau erkennen, meinte aber, dass vom Bug mancher dieser Boote Lichtfinger über die Wellen strichen.
Was sollte das? Militärboote in Erwartung der Heerscharen von Boat People, die sich über das Meer auf den Weg machen würden,um ganz Südfrankreich zu überrollen? Das ergab keinen Sinn. In dem Fall wussten nicht nur sie von der Prognose, in dem Fall waren sie die französische Regierung. Oder gleich die NATO . Und das war eine mindestens fünf Nummern zu große Erklärung. Es musste eine bessere geben.
Roman Abramowitsch hat seine Rolex beim Tauchen verloren, dachte Mavie, und gleich danach, dass schon zwei Whisky auf leeren Magen eindeutig zu viel für sie waren.
Sie öffnete das Fenster und schob den Aluminiumrahmen mit dem Moskitonetz beiseite, stützte sich mit den Händen auf die Fensterbank und holte tief Luft. Die Luft war immer noch warm, viel zu warm für die Jahreszeit, selbst für Südfrankreich, und in den schweren Duft der Vegetation mischte sich der salzige Geschmack des Meeres. Unter anderen Umständen hätte sie den Ort, an dem sie sich befand, sofort ins Herz geschlossen. Aber in ihrem Herzen war vorübergehend kein Platz.
Sie drehte sich nicht um, als Philipp die Tür öffnete und eintrat. Er dankte dem unsichtbaren Theo, schloss die Tür, stieß einen leisen Pfiff aus und sagte: »Sehr gute Wahl. Ab jetzt lass ich immer dich unsere Urlaube buchen.«
Dann hörte sie, wie seine kleine Sporttasche auf dem Boden vor dem Kamin landete. Es folgte das Geräusch zweier schwerer Gläserböden und eines Flaschenbodens auf dem Holz des kleinen Tisches, und im nächsten Augenblick fiel die Tür zum angrenzenden Badezimmer hinter Philipp zu. Was ihn nicht daran hinderte, von drinnen zu kommentieren, auch das habe sie prima ausgesucht. Die Geräusche, die folgten, hörte sie, ohne es zu wollen. Sie war sich nicht sicher, ob er Deckel oder Brille hochgeklappt hatte oder beides, und sie erklärte ihr Unterbewusstsein kurzerhand für unzurechnungsfähig, als dieses ihr mitteilte, er summe leise beim Händewaschen, verbrauche dabei viel zu viel Wasser, sei also entweder ein Verschwender oder zwanghaft veranlagt. Als sie sich reflexartig fragte, ob in diesem schicken kleinen Hotel nicht vielleicht auch noch ein Einzelzimmer frei war, übertönte Philipps Stimme die Frage, laut und deutlich.
»Und jetzt?«
Er war neben sie getreten, öffnete das Fenster neben ihrem und stützte sich ebenfalls mit den Händen auf die Fensterbank.
Mavie verschränkte die Arme vor der Brust und sah weiter hinaus über das Meer. »Ist doch gut gelaufen«, sagte sie.
Er schnaubte kurz, belustigt, ohne sie anzusehen. »Ja. Ganz toll. Du hast dein Megafon, und ab morgen retten wir die Welt. Und auf dem Weg bringe ich deinen Freund um.« Er sah sie an. »Ich hab nur eins nicht verstanden.«
»Ja«, sagte sie, ohne Fragezeichen.
»Ja«, sagte er. »Milett steigt nur in den Ring, wenn er Beweise hat. Also das Programm oder wenigstens die ganzen Prognosedaten. Und, korrigier mich, die hast du nicht. Und du wirst sie auch morgen …«
»Wir werden Thilo finden. Er wird sich melden.«
Er nickte kurz, dann verzog er das Gesicht. Den Kiefer nach links, den Kiefer nach rechts. »Sicher. Mavie …« Er unterbrach sich selbst, seufzte und sah wieder aus dem Fenster.
Sie wollte es nicht hören. Sie wollte nicht, dass er es sagte, obwohl sie es wusste, natürlich. Sie wollte nicht, dass er ihr ins Gesicht sagte, dass sie erledigt waren. Dass Milett sie rauswerfen würde, dass er alles absagen würde, ganz gleich, was er über Nacht vorbereiten konnte, dass sie umsonst gekommen waren. Sie wollte nicht hören, dass sie verloren hatte. Sie wollte nicht anfangen zu heulen. Sie wollte das einfach nicht wissen. So kurz vor dem Ziel, geschlagen,
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