Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Prophezeiung

Prophezeiung

Titel: Prophezeiung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Böttcher
Vom Netzwerk:
erledigt, tot.
    »Mavie«, sagte er, sah sie an, und in seinen Augen stand echtes Bedauern.
    Sie hob die Hand, den Zeigefinger erhoben. Legte den Zeigefinger ganz leicht auf seine Lippen, näherte sich und merkte, wie ihr die Berührung durch Mark und Bein ging. Er sollte es nicht aussprechen. Es würde nicht geschehen, solange er es nicht aussprach. Aber es ging nicht nur darum, merkte sie im Augenblick, in dem sie »Shhh« sagte, ganz leise, und ihre Lippen sich ihrem eigenen Zeigefinger näherten. »Shhh.«
    Ihr Zeigefinger löste sich förmlich in Luft auf, und nur für einen sehr kurzen Augenblick tasteten ihre Lippen vorsichtig nach einer Antwort, dann gaben sie das Tasten kurzerhand auf und forderten ihn dringend auf, einfach zu schweigen und ihr zu beweisen, dass sie noch lebte. Dass sie alles andere als erledigt war, alles andere als tot, dass im Gegenteil der gesamte Kosmos in ihrlebte und durch sie hindurchfloss und pulsierte. Seine Antwort war wortlos, laut und deutlich, und sie spürte ihn und zugleich sich selbst, lebendig, warm und direkt. Ohne Filter, ohne Ratio, ohne Zweifel. Pures Leben.

[Menü]
    III
Pandora
___________
    Es giebt keine noch so absurde Meinung, die die Menschen nicht leicht zu der ihrigen machten, sobald man es dahin gebracht hat sie zu überreden, dass solche allgemein angenommen sei.
    – Arthur Schopenhauer –
    Für jedes menschliche Problem gibt es immer eine einfache Lösung – sauber, plausibel und falsch.
    – H. L. Mencken –

[Menü]
    25 Thilo Beck hatte seine Schwester nie sonderlich gemocht. Paulina, sechs Jahre vor ihm zur Welt gekommen, war immer stärker gewesen als er, größer und zudem eine schlechte Verliererin. Seine gesamte Kindheit hindurch hatte er sich auf den Tag gefreut, an dem er es endlich mit ihr würde aufnehmen können, und war spätestens mit fünfzehn sicher gewesen, dass dieser Tag nicht mehr fern war. Aber spätestens mit neunzehn hatte er einsehen müssen, dass dieser Tag ungefähr so nah war wie die Wiederkunft Christi, denn während er vorwiegend seinen Geist weiterentwickelte, stählte Paulina vorwiegend ihren Körper. Mit 22 nahm sie an ihrem ersten Marathonlauf teil, mit 24 an ihrem ersten Triathlon, konnte stundenlang wie ein einbeiniger Fels dastehen, den ganzen empörenden Marines -Schwachsinn auch noch als »Yoga-Übung« verniedlichen und jeden aufgepumpten Bodybuilder problemlos im Armdrücken besiegen. Dass sie dabei auch noch passabel aussah, machte nichts besser.
    Eine Zeit lang hatten die Geschwister sich vertragen, in jenen Jahren, in denen beide aus dem Elternhaus aus- und um die Welt gezogen waren. Einmal im Jahr, zu Weihnachten, ertrugen sie einander ganz gut, und nachdem Paulina die Liebe ihres Lebens kennengelernt hatte, Diego, der eigentlich Andreas hieß, das aber nicht akzeptierte, wie so vieles, hatten Bruder und Schwester sogar eine Weile lang ein interessantes gemeinsames Thema gehabt, nämlich die Zukunft ihres Heimatplaneten. Aber Thilos verfickt rationale Vorgehensweise hatte Paulina schnell zur Weißglut getrieben, denn sie war – wie Diego, ihr Guru und persönlicher Gehirnwäscher – der Meinung, dass schöne Worte und immer wieder neue Onanieren-mit-Kondom-Experimente niemanden voranbrachten, sondern ganz im Gegenteil die Welt ungebremst in den Abgrund rollen ließen.
    Und so war die kurzzeitig erträgliche Beziehung der Geschwister rasch wieder abgekühlt. Erst recht, nachdem Paulina und Diego 2003 beschlossen hatten, der Zivilisation endgültig den Rücken zu kehren, auszusteigen und mitten im mecklenburgischen Nirgendwo Hühner und Schafe zu züchten, sich T-Shirts aus selbst gebastelten Hanffasern zu stricken und die Weltrevolution zu planen. Zu Thilos Überraschung hatten die beiden sogar eine Bande ebenfalls zivilisationsmüder Vollidioten gefunden, dieihnen gefolgt waren, und entstanden war daraus eine Kommune mit zwanzig, fünfundzwanzig Mitgliedern, die ein Stück Land am Waldrand bewirtschaftete und auf den beiden dazugehörigen Resthöfen irgendeine Form des Zusammenlebens praktizierte, die nach Thilo Becks Ansicht den miesesten denkbaren Mormonen- und Piratenromantik-Crossover aller Zeiten darstellte.
    Einmal hatte er Paulina besucht, 2005, auf ihrem schlammigen Hof. Danach hatte er ihr dringend geraten, Diego endlich zu verlassen, nicht nur weil der offenkundig mit fast allen weiblichen Mitgliedern der Kommune mehr als freundschaftliche Beziehungen unterhielt, sondern weil der Mann sich in Thilos

Weitere Kostenlose Bücher