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Prophezeiung

Prophezeiung

Titel: Prophezeiung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Böttcher
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Augen zu einem durchgeknallten Anarchisten entwickelt hatte. Paulina hatte ihren Bruder allerdings bloß erstaunt angesehen, mit diesem Blick, den sie ihm schon als Jugendliche immer geschenkt hatte, kurz vor einem Schulterwurf, und ihn darauf hingewiesen, Sesselfurzer wie er hätten nun mal keine Ambitionen und könnten eigentlich genauso gut gleich sterben und Platz machen, während Leute wie Diego eben die Welt veränderten.
    Thilo hatte sie gefragt, was, bitteschön, am Quervögeln so weltverändernd sei, und ihr harter, mit einem fröhlichen Lachen ausgeteilter Punch gegen seinen Oberarm hatte das vorläufige Ende ihrer Beziehung dargestellt. Der blaue Fleck hatte ihn noch vier Wochen lang begleitet. Danach war er nach Palma gegangen, um für Gerrittsen zu arbeiten, und sie hatten sich zu Weihnachten regelmäßig verpasst, zu Hause in Berlin, bei ihren Eltern.
    Thilo Beck hatte keine besondere Sehnsucht nach seiner Schwester gehabt.
    Dass sie ihm jetzt mitten ins Gesicht grinste, von oben, wie früher auf dem Rasen vor dem Haus, nachdem sie ihn wieder einmal besiegt hatte, gefiel ihm ganz und gar nicht. Er musste direkt in der Hölle gelandet sein.
    Aber daraus ergaben sich einige Fragen. Wo genau befand sich diese Hölle, in welcher Dimension? Und von wo aus war er dorthin gestartet? Wieso hatte die Hölle kiefernholzgetäfelte Wände und Decken und kleine schmutzige Fenster, und wieso stand ein Bett in der Hölle, mit einem seltsam riechenden Quilt drauf, auf dem er lag? Konnte man überhaupt jemanden in der Hölle treffen, der noch gar nicht tot war? War Paulina tot?
    Sie sah nicht so aus. Ungepflegt, ja, aber nicht tot.
    »Wo bin ich?«, sagte er.
    »Bei mir«, sagte sie. »Im Camp.«
    »Wie?« Er versuchte sich einen Reim auf die Schnappschüsse zu machen, mit denen sein Gehirn ihn bombardierte: Er sah sich selbst, seine Hosenbeine, blutüberströmt, Menschengesichter, tonlos, aber laut durcheinanderredend, auf einer Straße. Vor einem Café? Wo? Andere Menschen, Schwestern und Ärzte. Sein Blick in ihre Gesichter, von unten, in Bewegung.
    »Bin ich überfragt«, sagte sie. »Mama hat mich angerufen.«
    »Mama?«, sagte er verwirrt. Was hatte seine Mutter damit zu tun? Er war nicht in der Hölle, sondern durch die Zeit zurückgereist und wieder zehn Jahre alt? Vom Reck gefallen und von Mama gerettet?
    »Ihr redet nicht miteinander«, stellte er fest, denn so viel wusste er.
    »Stimmt«, sagte sie. »Außer wenn du am Abkratzen bist. Solltest du vielleicht öfter machen. Sie hat mich angerufen, weil wohl in deiner Brieftasche ein Zettel klebte, wer im Notfall angerufen werden soll. Also Mama. Und die hat sich sofort in den Flieger gesetzt, mit Uli, weißt ja, wie das Arschloch ist. Hat Alarm gemacht, die Ärzte da zusammengeschissen, mit all seinen verfickten Medizineranwälten gedroht und dich nach Berlin schaffen lassen, zur OP .«
    Beck verstand kein Wort. Das ergab keinen Sinn. »Ich war doch nicht in Berlin«, sagte er.
    »Nein, in Rotterdam.«
    Sein Gehirn feuerte eine neue Salve Schnappschüsse ab. Kopfschmerzen. Taubheit. Ein zerstörtes Zimmer. Seine blutende Hand. Ein Typ am anderen Ende des Zimmers, der eine Frau aufsammelte und sie wegzog, nach draußen. Der ihn einfach liegen ließ, ihn nicht einmal ansah. Ein umgestürzter Sessel. Glas, sehr viel Glas. Die Tür, auf die er zuwankte. Gesichter von Menschen, vor der Tür, auf der Treppe, eine blonde Frau, an einer Rezeption, die schockiert etwas sagte, was er nicht verstand. Die ihn festzuhalten versuchte. Die er wegschob. Regen. Regen, draußen. Nichts als Regen. Blinkendes Licht auf nassen Straßen. Keine Geräusche.
    Seine Anzughose, nass von Regen und Blut. Schwarzes Taumeln. Keine Menschen. Der Rinnstein, ein Café. Neue Menschengesichter. Schwarz. Ein Krankenwagen. Schwarz.
    »Arschloch Ulis Rotarier-Chirurgen haben dich geflickt, und Mama hat mich angerufen. Wollte wohl, dass ich Tschüs sage, keine Ahnung. Also bin ich nach Berlin, hab dir die Hand gehalten und mir dein sinnloses Gelaber angehört. Du erinnerst dich echt an gar nichts, oder?«
    Beck schüttelte den Kopf. »Kaum.«
    »Okay«, sagte sie und nickte. »Ist ja auch egal. Du warst ein paar Mal wach, dann sogar mal länger, hast aber trotzdem nur Scheiße geredet. Mama wollte dich mit nach Hause nehmen, Uli wollte dich in der Klinik lassen, und ich hab mir gedacht, nee, das wär meinem kleinen Bruder wahrscheinlich beides nicht so recht.«
    Er verstand weiterhin gar nichts.

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