Prophezeiung
Vorplatz hatten sich Schlammseen gebildet, und auch über die Steine floss braune Brühe, durchmischt mit Strohhalmen und unidentifizierbaren schwarzen Klumpen. Beck hoffte, dass es sich um kleine Steine handelte, aber er erinnerte sich auch, dass bei seinem letzten Besuch reichlich Hühner und Schafe zu den Bewohnern des Camps gezählt hatten. Dem Geruch nach zu urteilen, hatte sich daran nichts geändert.
Paulina stützte ihn, während sie ihn über den Hof führte, aber als sie die Holztür zur Diele des Haupthauses aufstieß, wies er ihren ihm dargebotenen Ellenbogen dankend zurück. Er fühlte sich auch so schon erbärmlich genug, er musste nicht auch noch als Pflegefall vor die versammelten Aussteiger treten.
In der breiten Diele standen sie alle zusammen, um den langen Esstisch herum. Sieben Frauen, acht Männer, die meisten in Overalls, der Rest in groben Pullovern, Latzhosen und Jeans. Diego, Paulinas Freund, stand am Kopfende des Tisches, ein großer, hagerer, bolzengerader Mann, vollbärtig und mit einer Frisur wie Aragorn kurz nach der letzten Schlacht. Der Blick, mit dem er die Neuankömmlinge begrüßte, war allerdings nicht ganz so markig wie der des Königs von Mittelerde, sondern fast verträumt.
Aber als Diego mit leicht singendem Ton zu sprechen begann, fröstelte Beck. Diegos Stimme war eine dünne Pastellfassade aus Klang.
»Ah, der tapfere Kamerad Thilo«, sagte Diego, und vierzehn Augenpaare wandten sich Beck und Paulina zu. »Willkommen in unserem Lager, mein Freund, Licht mit dir.«
Die anderen schlossen sich der sanften Begrüßung im Gleichklang an, die meisten mit leuchtenden Augen, und Thilo war plötzlich sicher, dass sie Hanf nicht nur zur Herstellung ihrer T-Shirts benutzten.
Aus den Augenwinkeln nahm er den Raum auf, in dem sie sich befanden. Der lange Esstisch, ausreichend Stühle, um gemeinsam die Mahlzeiten einzunehmen. Die halb offene Küche, mit überraschend modernen Gasherden und Stahlkühlschränken bestückt.Zur Rechten, dort, wo früher offenbar Kühe oder Schafe in Boxen gestanden hatten, eine ganze Reihe von Schreib- und Arbeitstischen, auf denen Bildschirme standen und von deren Platten diverse Kabel herunterhingen. Drei große Macs, drei Laptops, an den Wänden etliche Racks, vollgestopft mit externen Festplatten und Servern, vor dem nach draußen führenden großen Tor am Ende des Raumes ein langer Arbeitstisch, an dem offensichtlich gebastelt wurde. Mit Kabeln, Lötkolben, Sägen und, wie Beck endgültig überrascht zur Kenntnis nahm, Spielzeug. Am rechten Rand der Platte standen gleich mehrere Paletten Kinderüberraschungseier. Unwillkürlich fragte er sich, wohin die Gaias ihre Kinder zur Schule schickten, denn er erinnerte sich nur allzu gut, dass das Camp eine gute Fahrtstunde von jeder nennenswerten Zivilisation entfernt lag. Aber Diegos liebliche Stimme lenkte seine Aufmerksamkeit umgehend auf wichtigere Fragen.
»Ihr kommt zur rechten Zeit, ihr Lieben«, sagte der Anführer der Gaias zu Paulina und ihm, »denn unsere Präsentation ist in der Welt, und ich glaube, wir haben uns diesmal selbst übertroffen.« Er nickte den beiden Männern zu, die direkt neben ihm standen, und einem Mädchen auf der anderen Seite des Tisches, das bescheiden lächelte. »Ansgars Werk, Oskars Werk, Ninas Werk. Auf feindlichem Boden erworbenes Wissen, in Agenturen, IT -Firmen, oh ja, sie haben uns einiges gelehrt!«
Die Runde lachte fröhlich in sich hinein, und Thilo suchte hilflos Paulinas Blick. Sie zuckte lächelnd die Achseln und flüsterte: »Alles Werber, früher. Die sind echt gut, und Diego ist sowieso brillant.«
»Ansgar, wie viele Hits?«, fragte Diego den neben ihm stehenden Mann.
»205 000«, sagte Ansgar. »In dreißig Minuten, exponentiell steigend. Wir gehen durch die Decke.«
Die Runde brach in Applaus und heiteres Johlen aus, und Thilo wurde schwindlig. Er musste aber nicht fragen, ob er jetzt endlich sehen dürfe, was sie aus seinen illegal kopierten Daten gemacht hatten, denn Diego deutete mit einer huldvollen Bewegung auf den großen Apple-Schirm auf dem Tisch und sagte: »Präsentation für den tapferen Mann, der uns diesen Schatz gebracht hat!«
Der Clip begann mit bedrohlicher Musik, einem herzschlagdumpf wabernden synthetischen Mollakkord und animierter Schrift vor einem Bild des rot glühenden Erdballs. In die finsteren Töne mischte sich das bekannteste Morsezeichen der Welt, lauter werdend, drei kurz, drei lang, drei kurz, und aus dem Schwarz
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