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Proust 1913

Proust 1913

Titel: Proust 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luzius Keller
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Korrekturabzüge beschäftigt sich Proust, wie wir schon am Beispiel der Zusammenlegung der Figuren von Vington und Berget gezeigt haben, auch mit Problemen der Perspektive. Die neu geschaffene Figur Vinteuils sieht man nun zuerst aus der Perspektive von Marcels Familie und Swann als alten, etwas heruntergekommenen Klavierlehrer in Combray; dann aber – nach einem Wechsel in Zeit und Raum – aus der Perspektive der Verdurins und auch Swanns als genialen Komponisten. Solche Perspektivenwechsel, die einen Menschen in völlig anderem Licht erscheinen lassen, zeigt Proust auch an Swann, an Cottard, an Saint-Loup, an Albertine, ja eigentlich an allen Figuren seines Romans. Die narrative Struktur der
Recherche
ermöglicht ebenso Perspektivenwechsel anderer Art, nämlich jene von der Sicht des Erzählers zu der Sicht der Personen, in erster Linie natürlich zu jener der Hauptperson. In der letzten Phase der Arbeit an
Du côté de chez Swann
widmet Proust dem Wechsel von der Perspektive des Erzählers zu jener des Protagonisten ganz besondere Aufmerksamkeit. Dazu ein Beispiel:
    In der Fassung des Typoskripts und der Druckfahnen wird das Drama des Zubettgehens im ersten Kapitel von »Combray« vornehmlich aus der Perspektive des Erzählers erzählt. Das Drama setzt sozusagen dreimal an: vor dem Abendessen mit der Laterna-magica-Episode; nach dem Abendessen mit den Rundgängen der Großmutter im Garten und der kleinen nach Iriswurzel riechenden Kammer; schließlich mit dem eigentlichen Zubettgehen. Dieses beginnt in Typoskript und Druckfahnen folgendermaßen: »Es bereitete mir großen Kummer, hinauf- und ins Bett zu gehen, wenn alle noch unten blieben, um stundenlang zu plaudern. Mein Trost war [
était
], dass Mama heraufkam [
venait
] und mir einen Kuss gab, wenn ich im Bett war [
était
]. [… Der Augenblick, als Mama kam,] kündigte jenen an [
annonçait
], der bald folgte [
allait suivre
], in dem sie mich verlassen hatte [
avait
], in dem sie hinuntergegangen war [
était
].«
    Placard 2 : Das Drama des Zubettgehens
    Bei der Überarbeitung der Druckfahnen streicht Proust den ersten Satz, erweitert den folgenden, fortan ersten, und er führt einen Perspektivenwechsel zwischen Erzähler und Held ein, was grammatikalische Folgen hat: Die Ereignisse werden jetzt bald in der Vergangenheit, bald in der Zukunft der Vergangenheit erzählt: »Mein einziger Trost war [
était
], wenn ich schlafen ging [
montais me coucher
], dass Mama, wenn ich im Bett läge [
serais
], heraufkommen [
viendrait
] und mir einen Kuss geben würde. [… Der Augenblick, als Mama kam,] kündigte bereits den nächsten an [
annonçait
], der auf ihn folgen sollte, wo sie mich verlassen haben [
aurait
] und unten sein würde [
serait
].« (
Unterwegs zu Swann,
21 ) So erlebt der Leser die Ängste des Romanhelden nicht aus der Distanz des erwachsenen Erzählers, sondern aus der Unmittelbarkeit des Kindes heraus. Mit einem analogen Perspektivenwechsel setzt nun auch dank einer Druckfahnenkorrektur die Laterna-magica-Episode, das heißt die allererste Szene des Dramas des Zubettgehens ein: »In Combray wurde [
redevenait
] Tag zu Tag mein Schlafzimmer, sobald der Abend näher rückte, doch lange bevor ich mich zu Bett begeben und, ohne einschlafen zu können, von Mutter und Großmutter fernbleiben müsste [
il faudrait
], von neuem zum schmerzvollen Punkt, auf den sich meine Gedanken fixierten.« (
Unterwegs zu Swann,
15 )
    Placard 2 : Schluss der Ouvertüre; Beginn der Laterna-magica-Szene
    Die passende Pointe
    Oft bringt der Wechsel in der Perspektive einen Wechsel im Ton mit sich, was in den Pointen besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Leise Ironie schwingt schon im ersten Satz der Laterna-magica-Episode mit. Im Schlusssatz nimmt Proust sie wieder auf: »Und kaum wurde zum Abendessen geklingelt, rannte ich eiligst ins Esszimmer, wo die schwerfällige Hängelampe nichts von Golo und Blaubart wusste, dafür aber meine Eltern und den Bœuf à la casserole kannte und wie jeden Abend ihr Licht spendete, um mich in die Arme Mamas zu werfen, die mir durch Genoveva von Brabants trauriges Schicksal noch lieber wurde, während mich Golos Verbrechen anhielten, mein eigenes Gewissen mit noch mehr Sorgfalt zu durchforsten.« (
Unterwegs zu Swann,
17 ) Diese Pointe ist bei der Überarbeitung der Druckfahnen entstanden. Die vorangehende Version des Schlusses lautet: »Ich fand trotzdem großen Gefallen an diesen zitternden Regenbogenerscheinungen, die mein

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