Proust 1913
Zimmer mit einem so altehrwürdigen und so poetischen Widerschein von Geschichte einfärbte; sie waren, diese von der Laterna magica projizierten Bilder, gleichsam die Ausstrahlung der legendenumwobenen Leiden, die sie erzählten, und einer merowingischen Vergangenheit. Ach! ihr Anblick würde mir heute sehr wehtun, denn sie würden mich in eine beinahe ebenso tiefe Vergangenheit wie jene, nämlich in meine Kindheit hinabsteigen lassen, sie würden mit der Erinnerung an realere Schmerzen als jene Genovevas, an weniger weit zurückliegende Vergehen als jenes Golos mir das Herz zusammenschnüren. Und ich glaube, würde ich eines Tages im Zimmer eines kleinen Freundes an der Wand oder an der Tür ihre schönen leuchtenden und blauen Tupfen erblicken, gleich denen, die man auf den Flügeln gewisser Schmetterlinge sieht und die sich bewegen, bevor sie verschwinden, als regte sich ein letztes Mal im Augenblick, da er wegfliegt, der unsichtbare Flügel, den sie schmücken, ich würde mir die Augen bedecken und davoneilen. Unsichtbarer Flügel mit den Augen aus Azur und Feuer, kehr in jene Dunkelheit zurück, von der ich schon so weit entfernt bin. Bring mir meine Traurigkeit von damals nicht zurück: Wie früher würde sie mich davoneilen lassen, zu der Lampe, die erloschen ist, in die für immer verschlossenen Arme, die allein mir Heilung geben konnten.«
Placard 2 : Schluss der Laterna-magica-Szene
Den ersten Teil dieser Schlusspassage verschiebt Proust leicht verändert nach vorne, den Rest streicht er. So schließt die Episode jetzt anstatt mit einer elegisch mit einer ironisch gefärbten Pointe. Die Figur der Mutter bleibt sichtbar, die Anspielung auf ihren Tod aber verschwindet. Ebenso verschwindet die elegische Apostrophe an den Schmetterlingsflügel mit den azurblauen Tupfen. Ihr Fin-de-siècle-Stil ist im Jahr 1913 fehl am Platz.
Einer analogen Operation unterwirft Proust die eingeschobene Szene in der kleinen nach Iriswurzel riechenden Kammer. In der Fahnenversion schließt die Szene mit dem Satz: »Bei Tag sah man von dort weit weg den Kirchturm von Pinsonville, und sogar am Abend erkannte man ganz in der Nähe die runden Hügel, die man wegen eines Kalvarienberges, der sich früher dort auf einem von ihnen über einem großen Teich erhob, die Kalvarienhügel nannte und zwischen denen vor kurzem eine Rennbahn eingerichtet worden war, und meine Tränen verdoppelten sich, weil ich die Leiden meiner Großmutter mit jenen des Heilands verglich.«
Placard 2 : Schluss der Passage über die kleine nach Iriswurzel riechende Kammer
Auch hier verschiebt Proust den Anfang des Satzes nach vorne und streicht den Rest. So endet der Einschub jetzt mit der Aufzählung jener Tätigkeiten, für die die kleine Kammer als Zuflucht dient: Lesen, Träumen, Tränen und Lust. Diesmal ist die Pointe ein intertextuelles Signal: Sie weist auf den Refrain von Baudelaires Gedicht »L’invitation au voyage« (Einladung zur Reise): »Là, tout n’est qu’ordre et beauté,/Luxe, calme et volupté« (Dort ist alles nur Ordnung und Schönheit, Pracht, Stille und Lust). Auch der neue Ortsname enthält ein Baudelaire-Signal. Während Pinsonville an Mussets Figur der Mimi Pinson erinnert, weist Roussainville nicht nur auf die »filles rousses«, die Proust in der Gegend von Méséglise, wo Roussainville liegt, ansiedelt, sondern auch auf Baudelaires Gedicht »À une mendiante rousse« (Auf ein rothaariges Bettlerkind).
Ein weiteres Baudelaire-Signal, nämlich »un pleur involontaire« (eine unwillkürliche Träne) aus dem Eingangsgedicht »Au lecteur« (An den Leser), beschließt die Szene mit den Rundgängen der Großmutter im Garten, in die die Passage über die kleine Kammer eingeschoben ist. Auch diese Pointe ist – allerdings schon bei der Überarbeitung des Typoskripts – aus der Streichung eines Schlusssatzes hervorgegangen. In einer früheren Version folgte auf »unwillkürliche Träne«: »Wenn ich ihr einen Kuss gab, sagte ich: ›Grossmama, du machst mich ganz nass‹, und sie entschuldigte sich mit dem schönen Lächeln, mit dem sie sich über sich selbst lustig machte, und mit dem Blick, der zu bedauern schien, mir nicht wie ihre Lippen einen Kuss geben zu können.« Ob bei Mutter oder Großmutter, Proust ist bemüht, allzu Persönliches wegzulassen. Er ersetzt autobiographische durch literarische Bezüge, wobei in diesen die ja auch bei Baudelaire problematische Beziehung zur Mutter durchaus erhalten bleibt.
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