Proust 1913
gekommen. Proust übernimmt dankbar die Korrektur von Druck- und Sprachfehlern; in anderen Punkten aber lässt er sich nicht umstimmen. Der Titel von
Du côté de chez Swann,
den Louis de Robert ihm ausreden wollte, ist ein Beispiel dafür.
Wie es seine Gewohnheit ist, bearbeitet Proust gleichzeitig verschiedene Dokumente und in diesen verschiedene Teile. So sind denn die einzelnen Schritte der Überarbeitung nur ausnahmsweise genau zu datieren, und die folgenden Beispiele weisen bald auf die Zeit der Fahnenkorrektur im April, Mai oder Juni, bald auf jene der Korrekturabzüge von Juni bis Oktober.
Das passende Wort
Ist sich Proust in lexikalischen Fragen unsicher, wendet er sich nicht in erster Linie an das Wörterbuch, sondern fragt Bekannte um Rat.
So antwortet ihm Robert Proust, den er über die korrekte Verwendung des Ausdrucks
réflecteur
um Rat gebeten hat: »Mein Lieber, ich glaube, das Wort Reflektor passt sehr gut. Vielleicht würde ich ›ein Reflektor einer schlecht eingestellten Laterne‹ setzen. Aber sonst finde ich die Idee ausgezeichnet.« ( XVIII , 590 ) Doch in
Swann
steht schließlich
réflecteur mal réglé,
»ein schlecht eingestellter Reflektor« (
Unterwegs zu Swann,
432 ).
Colette d’Alton bittet Proust in dem schon erwähnten Dankesbrief von Mitte Juni, ihren Vater daran zu erinnern, er solle ihm über die Verwendung der Wörter
châtelain, châtelaine, chapitre, redevance
( XII , 201 ) Auskunft geben. Offenbar korrigiert Proust die Begegnungen mit Legrandin und mit Madame de Guermantes in Combray.
Mitte Juni unterbreitet er dem Kunsthistoriker Émile Mâle eine lange Liste von Fragen zu Baukunst, Literatur und Kleidung im Mittelalter, zu Ortsnamen und zur Etymologie von Namen wie Guermantes oder Saint-Loup-en-Bray ( XVII , 551 – 558 ).
Den Romancier Max Daireaux bittet er kurz nach dem 18 . Juni um Angaben zur korrekten Verwendung der Wörter
coagulation
und
propulsion,
die er für den Sonnenaufgang am Tag der Ankunft in Balbec verwenden möchte; oder des Wortes
plan,
das bei der Überschneidung verschiedener Vorstellungen von Swanns Wohnung eine Rolle spielen soll: »Kann man sagen, eine Wohnung oder ein Esszimmer sei der Plan, in dem sich [verschiedene Vorstellungen einer Wohnung] vermischen? Oder ist es unmöglich, das zu sagen?« ( XII , 206 )
Schließlich erkundigt er sich bei André Foucart, einem jungen Mann, den er in Cabourg kennengelernt hat, über die richtige Verwendung der Adjektive
vertical
und
oblique
sowie des Audrucks
en fonction de
( XXI , 652 ).
Der passende Strauch
Oft fragt Proust andere um Rat; ebenso oft aber berät er sich nur mit sich selbst. So braucht Proust keinen fremden Rat, wenn er die Eingangsszene in eine Lektüreszene umwandelt und wenn er in dieser die Motive immer näher an die Thematik des Romans heranführt. Die Zeitung wird zu einem archäologischen Traktat und schließlich zu einem Buch, und als Lesestoff bleibt »eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen Franz I. und Karl V.«, das heißt sakrale Baukunst, Musik und Geschichte. Bei der Überarbeitung der Druckfahnen und der Korrekturabzüge kommt es zu unzähligen solcher thematischer Verschiebungen und Präzisierungen. Ein kleines Beispiel: Wenn Marcel aus Scham darüber, seiner von ihren Schwägerinnen geneckten Großmutter nicht zu helfen, in die kleine nach Iriswurzel riechende Kammer unter dem Dach flieht, wird er dort in der Fassung des Typoskripts und der Druckfahnen von dem Zweig eines blühenden Fliederbuschs empfangen. Bei der Korrektur des zweiten Laufs aber ersetzt Proust den Flieder durch einen wilden Johannisbeerstrauch, »un groseillier sauvage«, und bei einer letzten Korrektur tauscht er diesen mit einem wilden schwarzen Johannisbeerstrauch, »un cassis sauvage« aus. Dabei hat er wohl kaum vorausgesehen, wohin dieses Motiv noch führen wird, nämlich zu dem Cassis, den im letzten Band der
Recherche
Marcel in einem Männerbordell zu sich nimmt, und zu dem Ausdruck »me faire casser le pot« (mir es von hinten besorgen lassen), der Albertine herausrutscht und Marcel in Entsetzen versetzt (
Die Gefangene,
483 ). Doch schon für die wenig später in der kleinen Kammer spielende Masturbationsszene schafft der Wechsel von dem lieblichen Wort
lilas
zu dem harten Wort
cassis
und von dem wohlriechenden Flieder zu dem etwas spezielleren Blütenduft der schwarzen Johannisbeere gute Voraussetzungen.
Die passende Perspektive
Bei der Überarbeitung der Druckfahnen und
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