Psalms of Isaak 01. Sündenfall
gingen, um außer Hörweite Stellung zu beziehen. »Nun ist die Zeit gekommen, dass wir offen miteinander sprechen. Vlad Li Tam flieht aus den Benannten Landen. Sethbert schweigt unter den Messern der Anatome. Was sind Eure Pläne für den Orden?«
Petronus schüttelte den Kopf. »Ihr könnt es Euch nicht länger erlauben, auf diese Art zu denken, Rudolfo. Der Orden spielt keine Rolle mehr. Ich spiele keine Rolle. Es geht einzig und allein um das, was von der Bibliothek noch übrig ist.«
Vlad Li Tams Worte kamen Rudolfo wieder in den Sinn. Ein neuer Ort für die Große Bibliothek. Unter einem starken Verwalter. »Ihr seid der Papst. Sicherlich habt Ihr darin eine Rolle zu spielen.«
Petronus schüttelte den Kopf. »Meine Rolle ist beinahe zu Ende. Ich habe all das aus gutem Grund hinter mir gelassen. Ich habe vor, es noch ein weiteres Mal hinter mir zu lassen, Rudolfo.«
Rudolfo blinzelte. »Das könnt Ihr nicht ernst meinen. Sie brauchen Euch.«
»Nein«, sagte Petronus, »in Wahrheit brauchen sie mich nicht.« Er seufzte. »Aber Ihr braucht mich. Und ich kann Euch geben, was Ihr braucht.«
Rudolfo spürte, wie sich seine Augen verengten. »Und das wäre?«
Petronus atmete eine Rauchwolke aus. »Ich kann Euch die Große Bibliothek geben.«
Ich könnte sie annehmen. Aber noch während er es dachte, wusste Rudolfo, dass er es nicht tun würde. »Was wollt Ihr?«
»Ich denke, Ihr wisst, was ich will.«
»Fahrt fort«, sagte Rudolfo. Plötzlich wusste er, was kommen würde.
»Ich werde es Euch erklären.« Petronus sah ihn an, seine Augen leuchteten plötzlich hart. »Wenn Euch die Wacht über Windwir als Beweggrund nicht ausreicht, dann verlange ich durch die Bundschaft zwischen Euren Häusern und meinem, als König von Windwir und Heiliger Stuhl des Androfranzinerpatriarchats, die Auslieferung Sethberts, des früheren Aufsehers der Entrolusischen Stadtstaaten. Er wird für die Verheerung von Windwir und für die verlorenen Seelen durch seinen Akt der grundlosen Kriegsführung angeklagt werden.«
Rudolfo dachte an Sethbert, der sich in seiner Zelle im Foltertrakt befand. Er war ein paar Tage vor Rudolfo eingetroffen, und der Zigeunerkönig war überrascht gewesen, dass es ihm widerstrebte, den Anatomen bei ihrer Arbeit zuzusehen.
Vor Windwir hatte er oft seine Mahlzeiten auf der Beobachtungsterrasse eingenommen, damit er der ruhigen Exegese der Anatome und den Schreien ihrer Patienten lauschen konnte. Aber seit seiner Reise an die Smaragdküsten, seit er entdeckt hatte, dass er selbst – zusammen mit dem Rest der Benannten Lande – unter dem gesalzenen Messer eines anderen gelitten hatte, fand er in diesem Werk keinen Trost mehr. Und er hatte schon seit einiger Zeit geahnt, dass Petronus sich auf die Rechte des Ordens aufgrund der Bundschaft berufen könnte.
»Ich werde ihn für die Verhandlung ausliefern«, sagte Rudolfo. »Aber Ihr werdet mir einen Papst geben, wenn Ihr es schon nicht selbst bleiben wollt.«
Petronus lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich werde Euch geben, was Ihr braucht, aber einen Papst garantiere ich Euch nicht.« Als Rudolfo den Mund öffnete, um zu widersprechen, fuhr er fort: »Den Respekt vor der Bundschaft sollte man nicht mit irgendjemandes rückwärtsgewandtem Traum verwechseln.«
Rudolfo legte den Kopf schief, nicht ganz sicher, ob er richtig verstanden hatte. »Rückwärtsgewandtem Traum?«
»Die Welt des P’Andro Whym ist – genauso wie die Welt des Xhum Y’Zir und sein Zeitalter des Lachenden Wahnsinns – nicht die Welt von heute, Rudolfo, und ganz gewiss nicht die Welt von morgen. In den frühen Tagen, bevor die whymerische Bibel zusammengestellt wurde, bevor die Androfranziner sich einen Namen gegeben, sich in Talare gekleidet und ihre reiche Stadt im Herzen der Welt errichtet hatten, haben sie ein Bedürfnis bedient, weil es in diesem Augenblick bestanden hat.« Er hob sein leeres Glas und drehte es im Kerzenlicht. »Der Grundstein des androfranzinischen Wissens besagt, dass Veränderung der Pfad ist, den das Leben einschlägt. Und doch träumen wir alle rückwärtsgewandt von dem, was gewesen ist, statt nach vorne zu schauen und von dem zu träumen, was sein kann … oder noch besser, im Hier und Jetzt zu träumen.«
Rudolfo seufzte. Er konnte die Wahrheit in den Worten des alten Mannes spüren, in dem dumpfen Schmerz seiner Muskeln und seiner Seele nach seinem langen, nachdenklichen Ritt. »Wir lieben die Vergangenheit, weil sie uns vertraut ist«,
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