Psalms of Isaak 01. Sündenfall
war, hatte sie keinen Menschen mehr umgebracht. Sie hatte einige mehr oder weniger schwer verletzt, aber im Herzen hielt sie immer noch an einigen der whymerischen Glaubensgrundsätze fest, ganz gleich, wie wenig sie sich für ihre Lebensweise eigneten. Doch allein heute hatte sie fünf getötet. Und sie hatte der Möglichkeit entsagt, Kinder zu bekommen, und ging dreimal im Jahr zu einer Frau, die Magifizienten verkaufte, damit das auch weiterhin so blieb. Und an diesem Morgen hatte sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um einem Jungen zu helfen, der nicht von ihrem Blut war.
Sie hatte gewusst, dass Sethbert langsam wahnsinnig wurde. Ihr Vater hatte ihr gesagt, dass es so kommen würde, weil jedes sechste männliche Kind in Sethberts Familie im Wahnsinn starb – ein Muster, das ganze Generationen seiner Linie noch nicht erkannt und korrigiert hatten. Sie hatte seinen schleichenden Verfall erwartet.
Aber niemals hätte sie erwartet, dass sie die Gefährtin des Mannes sein würde, der den Orden der Androfranziner zerstörte, oder dass sie im Laufe einer Nacht plötzlich Bundschaft mit dem Zigeunerkönig halten würde, weil er sich zu ihrem Verehrer erklärt hatte.
Und nun teilte sie sich ein Zelt mit einem Metallmann, der mit der Magie und Wissenschaft einer ausgelöschten Ära erschaffen worden war.
Sie blickte zu ihm hinüber. Er saß bewegungslos da, seine Augen glühten schwach. »Musst du schlafen?«
Ein wenig Dampf entwich aus seinem Rücken, und er surrte. »Ich brauche keinen Schlaf, meine Dame.«
»Was tust du stattdessen?«
Er blickte auf, und im Licht seiner Augen konnte sie Tränen hervortreten sehen. »Ich trauere, meine Dame.«
Sie war bestürzt. Sethberts Mechoservitor hatte niemals einen Hinweis auf Gefühle gezeigt. Das war neu und erschreckend für sie.
»Du trauerst?«
»Ja. Ihr wisst sicher von der Zerstörung Windwirs?«
Das hatte sie nicht erwartet. »Ich weiß Bescheid. Auch ich bedaure es.«
»Es war ein schrecklicher Vorfall.«
Sie schluckte. »Ja.« Ein Gedanke kam ihr. »Weißt du«, sagte sie, »du bist nicht allein. Sethbert hat andere … Er hat alle anderen, wenn ich mich recht erinnere.«
Isaak nickte. »Ja. König Rudolfo hat mich davon unterrichtet. Er beabsichtigt, sie mir mit der Bibliothek helfen zu lassen.«
Bibliothek? Sie setzte sich auf. »Welche Bibliothek?«
Isaak klickte und klackte, als er auf seinem Stuhl herumrutschte. »Wir verfügen über etwa ein Drittel der Bibliothek in unseren Gedächtnisregistern, aus unserer Arbeit an Katalogen und Übersetzungen. König Rudolfo hat mich gebeten, den Wiederaufbau der Bibliothek und die Wiederherstellung des verbleibenden Wissens in die Wege zu leiten.«
Sie beugte sich nach vorne. »Rudolfo wird die Bibliothek im entlegenen Norden wieder aufbauen?«
»Das wird er.«
Das war ein unvorhergesehener Schritt. Sie fragte sich, ob ihr Vater davon wusste. Es würde sie nicht überraschen, wenn dem so wäre. Aber je mehr sie über diesen Rudolfo erfuhr, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass er jemand war, der womöglich sogar noch schneller als ihr Vater dachte und auf dem Spielbrett noch drei Züge mehr vorausplante als dessen fünf.
Das ließ ihn zu einem starken Verehrer werden.
Und diese Entschlossenheit. Die Bibliothek wieder aufzubauen, nur drei Tage nachdem die Feuer vom ersten Tag erloschen waren – im fernen Norden weitab vom Geplänkel und der Politik der Benannten Lande. Der Abkömmling und Namensvetter von Xhum Y’Zirs Wüstendieb war plötzlich Haus- und Schutzherr des größten Hortes menschlichen Wissens.
Wahrhaft ein starker Verehrer, dachte sie.
»Er ist ein guter Mann«, sagte Isaak, als würde er ihre Gedanken lesen. »Er hat mir gesagt, dass ich nicht für die Verheerung von Windwir verantwortlich bin.« Er hielt inne. »Er sagte mir, es wäre Sethbert gewesen.«
Sie nickte. »Rudolfo sagt die Wahrheit. Ich weiß nicht, wie, aber Sethbert hat Windwir zerstört. Er hat mit einem Androfranzinerlehrling zusammengearbeitet.«
Noch mehr Dampf quoll aus Isaaks Entlüftungsrost. Sein Mund öffnete und schloss sich, und seine Augen bewegten sich. Weiteres Wasser sickerte um die Juwelen herum hervor. »Ich weiß, wie Sethbert Windwir zerstört hat«, sagte Isaak mit leiser Stimme.
Und in diesem Augenblick, am Klang seiner Stimme oder vielleicht an der Art, wie seine Schultern unter dem zerschlissenen Androfranzinertalar zuckten, wurde Jin Li Tam klar, dass auch sie es wusste. Irgendwie hatte Sethbert
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