Psychologische Homöopathie
»furchtsam«).
Ohne das Gefühl der eigenen Stärke empfindet man einen gewissen Mangel an geistiger Klarheit. Nichts beeinträchtigt das Denken stärker als Furcht, und die Angst davor, andere Menschen zu kränken, bringt den zarten Staphisagria oft in Entscheidungsnöte, besonders wenn er versucht, es mehreren Leuten gleichzeitig recht zu machen. Soll er nun auf seine Mutter oder auf seine Freundin hören, und wenn er auf seine Freundin hört, wird seine gekränkte Mutter ihm dann jemals vergeben? Solche ausweglosen Situationen kommenhäufig vor, wenn man versucht, andere Menschen wichtiger zu nehmen als sich selbst, was beim zarten Staphisagria in der Regel der Fall ist.
Staphisagria hat oft einen scharfen Verstand, und das gilt auch für den zarten Typ. Vor allem viele Männer sind auf die eine oder andere Art sehr professionell und mit ihrer Arbeit genauso verheiratet wie mit ihren Frauen, aber während andere Workaholics durch Gier motiviert werden oder durch das Bedürfnis, ihren Wert zu beweisen, arbeitet der zarte Staphisagria-Workaholic aus Pflichtgefühl, um seinem Nächsten zu dienen. Ich habe einmal einen Kinderchirurgen wegen chronischer Verdauungsstörungen behandelt. Er war auf seinem Gebiet hervorragend, hatte viele Auszeichnungen gewonnen und war selbstsicher, wenn er über seine Arbeit sprach (ohne eine Spur von Stolz). Bei einem solchen Mann würde man vermuten, daß er Nux vomica oder Arsenicum ist, vielleicht auch ein perfektionistischer Natrium, aber mir wurde bald klar, daß er ein extrem zurückhaltender Mensch war (Kent: »schüchtern«), dem seine kleinen Patienten sehr viel bedeuteten und der es genoß, wie sie zu ihm als liebevoller Vaterfigur aufsahen.
Wie alle zarten Staphisagrias sprach er sehr leise und wirkte selbst dann noch bescheiden, wenn er seine größten beruflichen Leistungen beschrieb (wozu gehörte, daß er eine Abteilung für Kinderchirurgie in einer Stadt eingerichtet hatte, wo es etwas derartiges bisher noch nicht gab). Ich fragte ihn, was er jetzt nach der Pensionierung in seiner Freizeit am liebsten tue, und er sagte, er spiele gerne Kricket und sei in diesem Spiel eine Art Autorität. Leider habe er jedoch sehr wenig Zeit zu spielen, weil er ständig gebeten werde, bei Kricketturnieren im ganzen Land die Aufgabe des Schiedsrichters zu übernehmen. Als ich ihn fragte, warum er denn nicht sage, daß er lieber selbst Kricket spiele, statt Schiedsrichter zu sein, seufzte er und meinte: »Ich konnte nie nein sagen.« Genauso wie als Schiedsrichter bei Kricketspielen hatte er viel Zeit damit verbracht, für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen und medizinische Komitees zu arbeiten, auch hier wieder, weil man ihm das Gefühl gab, er werde gebraucht, und weil er nicht nein sagen konnte. Natürlich wollte er sich unterbewußt gebraucht fühlen, genauso wie die zarte Staphisagria-Hausfrau für ihren Mann unentbehrlich sein möchte, aber er war auch frustriert, weil er sich nicht entspannen und in seiner Freizeit spielen konnte. Wie die meisten zarten Staphisagrias war er ein sanfter Mann, der selten starke Emotionen zeigte, der die Welt durch die Brille seines kultivierten Verstandes sah und der durchdrungen war von dem emotionalen Bedürfnis nach Harmonie und Anerkennung.
Der wilde Staphisagria
Dieser Typ kommt der traditionellen, wütenden Version von Staphisagria etwas näher, ist aber sogar noch komplexer als seine zarten Brüder und Schwestern. Die überwiegende Mehrheit der wilden Staphisagrias ist männlich (mir ist noch keine Frau dieses Typs begegnet). Anders als der zarte Staphisagria-Mann, der seine Wut vollständig unterdrückt (Kent: »unterdrückter Ärger«), erlebt der wilde Staphisagria die Kraft seiner Wut andeutungsweise durch den Nervenkitzel gefährlicher Abenteuer und wilder sexueller Exzesse. Er ist der rücksichtsloseste Konstitutionstyp, der nur so zum Spaß Risiken eingeht, die selbst den abenteuerlustigsten Nux oder Sulfur in Angst und Schrecken versetzen würden. Im Grunde ist er rücksichtslos, weil seine Vorliebe für wilde und gefährliche Abenteuer eigentlich eine Sucht ist. Wenn sein Leben beginnt, sich sicher und normal anzufühlen, wird er sehr erregt, weil die Spannung seines unterdrückten Ärgers an die Oberfläche kommt und nur durch ein neues wildes Abenteuer abgebaut werden kann. Tuberculinum wird ebenfalls rastlos, wenn er sich lange an einem Ort aufhält, aber er ist eher süchtig nach Abwechslung und Aufregung als nach
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