Psychopath
Roland.
10
6 Uhr 12
Mittwoch, 9. April 2004
Clevenger tat kein Auge zu. Seine Gedanken kehrten immer wieder nach Utah zurück, spielten noch einmal jede Bewegung durch, versuchten, ein Gesicht zu entdecken, das zu denWorten des Highwaykillers passte. Doch keins wollte sich aus der Menge lösen. Wie Roland schon gesagt hatte, der Mörder konnte überall gewesen sein – er konnte am Tatort vorbeigefahren sein, als Clevenger und McCormick aus dem Transporter der State Police ausgestiegen waren, er konnte in dem Restaurant gewesen sein, in dem sie zu Abend gegessen hatten, in ihrem Hotel, am Flughafen. Und es gab noch einen möglichen Grund, weshalb sich sein Gesicht nicht vor Clevengers geistigem Auge kristallisierte. Er passte sich überall ein. Keine Ecken und Kanten, nichts, das eines zweiten Blickes würdig war. Ein Mann von ansprechendem Äußeren, der keinen Verdacht erregte. Ein leeres menschliches Gefäß, das deine Sorgen in sich aufnahm.
Clevenger holte die New York Times herein, sobald er hörte, dass sie vor dem Loft auf dem Boden landete. Er setzte sich hin und las den Brief des Highwaykillers, las einen Teil davon dreimal:
Sie denken, Sie könnten dem Kampf ausweichen, indem Sie Ihren Verstand und Ihr Herz im Sexualakt versenken. Sie wählen die Jägerin, um nicht ein wahres Selbst wählen zu müssen, um der Frage auszuweichen, die Sie verfolgt. Sind Sie – im Kern, in den dunkelsten Momenten Ihrer Nacht – ein Heiler oder ein Jäger, mein Arzt oder mein Henker?
Ich werde Ihnen helfen, diese Frage zu beantworten. Denn ich bin – im Gegensatz zu Ihnen – ein Mann meines Wortes.
Ich hätte Ihnen einen um den anderen jeden einzelnen Leichnam zurückgegeben, damit er mit seiner Familie wieder vereinigt werden kann, doch Sie haben sich als unwert erwiesen, indem Sie mit demFBI nach Utah gekommen sind (nachdem Sie sich von ihnen losgesagt hatten) und dann über meine Opfergabe gelogen haben, um mich dazu zu bringen, meine Liebe zu meiner Mutter, meiner Beschützerin, meinem Engel, infrage zu stellen.
Konnte es tatsächlich möglich sein, dass der Highwaykiller sich nicht erinnerte, was er Paulette Bamberg angetan hatte?, fragte Clevenger sich.
Das Telefon klingelte. Er warf einen Blick auf die Rufnummernanzeige. Federal Bureau. Er nahm den Hörer ab. »Frank Clevenger.«
»Ich bin’s«, sagte Whitney McCormick. »Die Times hat einen weiteren Brief vom Highwaykiller erhalten.«
»Ich weiß«, sagte Clevenger. »Ich habe gestern Abend mit Kyle Roland gesprochen.«
»Du hast mit Kyle Roland gesprochen?«
Clevenger fand nicht, dass er McCormick von seiner Absprache mit Roland, die Therapie des Highwaykillers fortzusetzen, erzählen sollte. Kane Warner oder Jake Hanley könnten einen weiteren Versuch starten, es zu unterbinden. »Er wollte erklären, warum er den Teil über mich und dich nicht vor dem FBI zurückgehalten hatte«, erläuterte er ihr. »Er fand, sie sollten wissen, wie fixiert der Highwaykiller auf unsere Beziehung ist.«
»Kane hat mich in die Mangel genommen, ob an der Sache was dran sei«, sagte sie.
»Was hast du ihm gesagt?«
»Die Wahrheit – dass mir etwas an dir liegt.«
Clevenger war überrascht, wie gern er das hörte. »Mir liegt auch was an dir«, erwiderte er. »Was immer es dir auch bedeutet.«
»Es bedeutet mir eine Menge«, sagte sie. »Wenn diese ganze Sache vorbei ist, kann ich dir vielleicht beweisen, wie viel.« Sie hielt kurz inne. »Er wollte wissen, ob wir miteinander geschlafen hätten.«
»Das kann er dich nicht fragen. Du arbeitest für ihn.«
»Er kann, wenn er Grund zu der Annahme hat, dass es meine Arbeit beeinträchtigt.«
»Und, was ist passiert?«
»Ich habe seine Frage beantwortet, und er hat mir den Fall entzogen. Er hat gesagt, er könne sich nicht mehr auf meine Objektivität verlassen. Hanley hat sich hinter ihn gestellt.«
»Gestern hast du ihre Partei ergriffen, nicht meine. Wie können die behaupten, du seist nicht objektiv?«
»Es spielt keine Rolle mehr«, sagte sie. »Ich habe gekündigt.«
»Du hast gekündigt?« Clevenger sah vor seinem geistigen Auge den selbstgefälligen Ausdruck auf Kane Warners Gesicht, als er ihn beinahe dazu gebracht hatte, das Handtuch zu werfen. »Warum hast du ihnen diese Genugtuung verschafft?«
»Es geht nicht um sie«, sagte McCormick. »Ich hab über das nachgedacht, was du in meinem Büro gesagt hast. Du hattest Recht. Ich war mir nie wirklich sicher, ob ich diesen Job
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