Psychopath
verschenken. Denn es gehört schon lange nicht mehr dir.«
Wie wahr. Wie Recht sie doch hatte. Jonah dachte, dass er endlich eine verwandte Seele gefunden hätte, jemanden, der seinen speziellen Platz in dieser Welt, seine spezielle Bürde verstand. »Ich trage viele Seelen in mir«, sagte er.
Die Frau begann, sein Hemd aufzuknöpfen, schob den Stoff beiseite und küsste seine Brust.
Er legte seinen Kopf in den Nacken und schloss die Augen, wartete darauf, dass sie seinen Hosenbund erreichte, den Reißverschluss darunter öffnete, dass sie ihn in sich aufnahm.
»Du bist so müde«, flüsterte sie und ließ ihre Zungenspitze über seinen Bauch gleiten. »Du musst dich hingeben.«
»Ja«, sagte er atemlos. Er bog lustvoll sein Kreuz durch, reckte sich ihr entgegen. Und da fühlte er den ersten brennenden Stich in seinem Brustbein. Er versuchte sich aufzusetzen, doch er konnte kaum seinen Kopf heben. Er erhaschte einen Blick auf ein Skalpell, triefend von Blut. Seinem Blut. Voller Panik wollte er davonlaufen, doch seine Hände und Füße waren erstarrt. Dann fühlte er, wie sie begann, ihn aufzufressen, wie sich ihre rasiermesserscharfen Zähne in seine Haut schlugen, während sie mit ihren Krallen so gierig an dem Brustbeinknochen darunter kratzte, dass er zersplitterte. Der Schmerz war unbeschreiblich, eine höllische Folter, die ihn schreiend und schweißnass und zitternd vor Todesangst aus dem Schlaf hochschrecken ließ.
Er konnte keine Zuflucht vor seiner Isolation finden. Nicht bei Tag. Nicht bei Nacht. Und sein nächster Krankenhauseinsatz begann erst in einer Woche.
Die Straße verschwamm vor seinen Augen. Er war beinahe blind vor Hunger nach einem anderen menschlichen Wesen. Er nahm die nächste Ausfahrt, bog auf die Route 17, hielt auf den National Forest von Ottawa zu. Wenn er es dorthin schaffte, könnte er vielleicht seinen Hunger hinter sich zurücklassen. Er hatte genug Proviant und Wasser, um eine Woche zu campen. Er konnte den Mount Avron erklimmen, näher zu Gott, weiter weg von der Versuchung.
Doch Gott hielt eine weitere Prüfung für ihn bereit. Eine Meile hinter der Ausfahrt drehte sich ein Mann mit einem Rucksack um und reckte seinen Daumen hoch, um mitgenommen zu werden. Mitten in der Nacht. Mitten in der Wildnis. Ein Mann zu genau der falschen Zeit an genau dem falschen Ort. Jonah wandte seinen Blick ab, biss die Zähne zusammen und fuhr an ihm vorbei. Dann, halb gegen seinen Willen, so als würde er von dem Teil in ihm, der dem neunjährigen Benjamin Herlihey in seinem Rollstuhl entsprach, dazu gezwungen, wanderte sein Blick nach oben und nach rechts zum Rückspiegel. Er sah den Mann am Straßenrand den Kopf schütteln und frustriert seine Faust hochrecken. Und er sah noch etwas anderes. Der Mann trug eine Augenklappe.
Nichts Besonderes, diese Augenklappe. Es konnte ein Dutzend Erklärungen dafür geben. Ein Arbeitsunfall. Ein Geburtsfehler. Ein träges Auge als Folge von Multipler Sklerose. Netzhautblutung als Folge von Diabetes. Eine Schlägerei. Für jeden anderen wäre es nichts weiter als eine Kuriosität geblieben. Etwas, das man sah und dann ein, zwei Meilen weiter wieder vergessen hatte. Doch für Jonah landete jene Kuriosität wie ein Enterhaken in seinem Innern, versank in seinem Fleisch, in seiner Seele. Sie ließ ihn abbremsen, zurückschnellen, dann zog sie ihn an den Straßenrand und hielt ihn dort fest.
Jonah musterte den Mann, während er auf ihn zukam. Er sah schlank und kräftig aus. Sein Gang war federnd, schwungvoll, dem Gewicht seines Rucksacks zum Trotz.
Er trat ans Beifahrerfenster.
Jonah drehte sich zu ihm um und sah, dass er um die dreißig war, gut aussehend auf eine herbe Art, unrasiert und mit schulterlangen, rötlichen Haaren unter einer grauschwarz gestreiften Skimütze. Jonah ließ das Fenster herunter.
»Sind Sie zufällig nach Trout Creek unterwegs?«, fragte der Mann nervös.
»Die Richtung stimmt«, sagte Jonah und rieb sich seinen verkrampften Kiefer. Er zwang sich zu lächeln. »Werfen Sie Ihren Rucksack auf den Rücksitz.«
Der Mann setzte seinen Rucksack ab, legte ihn auf den Rücksitz und stieg neben Jonah ein. Er reichte ihm seine Hand. »Doug Holt.«
»Jonah Wrens.« Er schüttelte Holts eiskalte Hand.
»Ich hätte nicht gedacht, dass mich in der Nacht jemand mitnimmt. Heutzutage hält niemand mehr an.«
»Ich war früher viel als Anhalter unterwegs«, sagte Jonah. Er konnte seinen Blick nicht von der Augenklappe losreißen. »Ging
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