Psychopath
und hielt ihr seine Arme hin. Er sah, wie Naomi ihre Augen weit aufriss, während sie auf die horizontalen Narben starrte, die sich über seine Handgelenke und Unterarme zogen – die Zeugnisse seiner Selbstmordgesten. »Ich hab es auch gemacht«, sagte er.
»Warum?«
Jonah sah sie an, als wolle er sagen: Du weißt, warum.
»Um das eklige Zeug rauszulassen«, sagte sie.
Jonah nickte. Er starrte auf seine Narben, doch vor seinem geistigen Auge sah er, wie Naomis Vergewaltiger ihre Knie auseinander zwang, sah die Angst und Verwirrung auf ihrem Gesicht. Verwirrung überwog, denn sie konnte unmöglich erraten, welches Grauen ihr bevorstand. Was sie wusste, war,dass ihr Körper in einer Weise manipuliert wurde, wie das nie zuvor geschehen war, Arme ausgestreckt, Beine gespreizt, um freie Bahn für einen Mann zu schaffen, dessen Gesicht ihr näher kam, als ihr lieb war. Und sosehr auch die Verwirrung wuchs, während der Mann sich enger und immer enger an sie presste, war es am Ende ihre Angst, die alle anderen Emotionen überlagerte. Dann drang der Mann mit Gewalt in sie ein, und ihre ganze Welt wurde schwarz. Jonah sprangen Tränen in die Augen, während er sich das vorstellte, es nachempfand.
Naomi sah ihn in einer Weise an, wie es nur einem wissenden Kind möglich war, einem Kind, dem diese Welt noch neu genug war, um alles um sich herum – einschließlich des Leidens anderer – als so warm und leuchtend zu empfinden wie die Mittagssonne. Sie wollte ihm instinktiv mehr von sich geben, mehr von dem Schmerz, der sich in ihr angestaut hatte. Denn Jonah schien diesen Schmerz haben zu wollen. Schien ihn sogar zu brauchen. »Ich hab gefühlt, wie es in mich reingegangen ist«, sagte sie. »Ekliges, klebriges Zeugs.«
»Und du weißt nicht, ob es immer noch da drin ist.«
Jetzt waren es Naomis Augen, die feucht wurden.
»Wenn wir jetzt so darüber sprechen, hast du gleich den Wunsch, dich zu schneiden«, sagte Jonah.
Eine Träne lief über ihre Wange. Naomi begann, sich die Hände zu reiben.
»Ich kenne einen anderen Weg, um sicherzustellen, dass alles raus ist. Das eklige Zeugs.«
»Wie?«
Jonah streckte ihr seine Hände hin. »Mit diesen hier.« Er sah, wie sie ihre Knie fest zusammenpresste. »Wir vertrauen einander. Stimmt’s?«
Sie nickte, ließ aber ihre Knöchel über Kreuz.
»Schließ deine Augen für mich«, bat er. Er hielt seinen Atem an, während er abwartete, ob sie es tat, ob sie – im Gegensatz zu Anna Beckwith und den anderen – bereit war, geheilt zu werden, imstande war zu gesunden. Denn was Naomi wirklich brauchte, was sie mehr als Zyprexa oder Zoloft oder Trazodon brauchte, war die Fähigkeit zu vertrauen, weniger in die Güte anderer als in die eigene Stärke. Sie musste sich in die Hände eines anderen Menschen geben und erleben, dass sie es unversehrt überstehen konnte. Das war das Gegengift für alles, was der Vergewaltiger in ihr zurückgelassen hatte.
Jonah schloss seine Augen und betete stumm zu dem Gott, den er liebte, dem Gott, der ihn liebte, und bat den Herrn um etwas von seiner Kraft, um damit jenen Teil von sich zu erfüllen, der dieses wunderhübsche kleine Mädchen war. Und als er seine Augen wieder öffnete, bewies sie jene Kraft. Sie schloss ihre Augen und hielt sie so fest zusammengekniffen, dass sich um die Augenwinkel Krähenfüße bildeten und sich ihre ganze Stirn sichtlich anspannte von der Anstrengung, sie nicht sogleich wieder aufzureißen.
Er bekam Gänsehaut am ganzen Körper. »Du wirst meine Hände auf dir fühlen«, erklärte er, und seine Stimme war melodiöser und beruhigender denn je. »Versprich mir, dass du deine Augen nicht aufmachst«, sagte er.
»Versprochen«, flüsterte sie.
Jonah stand auf und legte sanft seine Handflächen auf ihren Kopf. »Ich kann fühlen, ob böses Zeug in dir ist«, sagte er. »Wenn da welches ist, kann ich es aus dir herausziehen – und in mich hinein.« Er bewegte seine Hände zu ihren Schläfen, ihren Wangen, erschauerte, als er die Nässe ihrer Tränen fühlte.
»Wird es dir nicht wehtun?«, fragte sie und wich leicht zurück.
Ihre Sorge um ihn verschlug ihm förmlich den Atem. »Ich bin älter als du«, antwortete er, »und sehr stark. Ich kann vielmehr in mir aufnehmen.« Er spreizte seine Finger über ihren Ohren, ließ seine Hände in ihren Nacken gleiten und drückte seine Daumen sacht in das weiche Fleisch zu beiden Seiten ihrer Luftröhre. »Mir wird nichts passieren. Und dir wird nichts passieren.«
Die
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