Psychopath
dann fand Jonah Dinge, die ihn mitten ins Herz trafen: das Foto einer Brünetten Anfang dreißig, deren Hände liebevoll ihren schwangeren Bauch streichelten; eine schwarze Samtschatulle mit einem bescheidenen, diamantbesetzten Verlobungsring darin; und eine größere weiße Geschenkschatulle mit einem wunderschönen Schneckenhaus aus mundgeblasenem Glas, das wie ein Regenbogen in allen Farben schillerte.
In der Schatulle lag ein kleiner Umschlag. Jonah öffnete ihn und las die Karte darin:
Für Mr. und Mrs. Caldwell,
bitte nehmen Sie dies als kleines Zeichen meiner ewigen Dankbarkeit dafür, dass Sie Naomi auf die Welt gebracht haben. Sie hat meine Welt für immer verwandelt.
Doug
Ewig. Jonah sank auf dem gefrorenen Boden auf die Knie. Holt hatte die Wahrheit gesagt, seiner Verkleidung zum Trotz. Nicht in jeder Hinsicht. Nicht darüber, dass er vor dem Gesetz auf der Flucht war. Doch über die wichtigen Dinge. Die Frau, die er liebte. Das Kind, das ihm geboren werden würde. Und Jonah, in seiner Arroganz, in seiner wütenden Panik, dass er übertölpelt worden war, dass ihm das Lebensblut vorenthalten wurde, das er so verzweifelt brauchte und das ihm zustand, hatte diese Wahrheit nicht erkannt, hatte darin versagt, ihrem Pfad bis zu Doug Holts Herzen zu folgen.
Mehr als alles andere hatte er darin versagt zuzuhören.
Tränen strömten über sein Gesicht. Sein Verstand wurde überflutet von Fragen an Holt. Hatten er und Naomi die Schwangerschaft geplant? Wie stand er dazu, Vater zu werden? Wie würde er die Beziehung zu seinem eigenen Vater beschreiben? Wusste er, welches Geschlecht das Kind haben würde? Hatten sie sich schon für einen Namen entschieden?
Holt hätte es ihm erzählt. Er hätte all diese Fragen bereitwillig beantwortet. Wahrheitsgemäß. Und hätte Jonah zu einem Teil seiner wachsenden Familie gemacht.
Stattdessen war Holt tot, und ein Baby würde vaterlos geboren werden, bereits jetzt von einer klaffenden Wunde in seiner Psyche gezeichnet.
Gott hatte tatsächlich einen weiteren Engel gesandt, doch Jonah hatte nicht verstanden, das Geschenk anzunehmen. Hatte elendig versagt. Er hatte einen Mann getötet und praktisch nichts von der Seele dieses Mannes in sich aufgenommen. Er hatte das Leben des Mannes vergeudet. Hatte ihn ausgelöscht.
Für immer.
Während er den Highway entlangbrauste, wurde er von einem Selbsthass übermannt, der stärker war als alles, was er zuvor empfunden hatte. Er war verderbt. Grotesk. Und er empfand dies umso stärker, weil der Schmerz in seinem Kopf und in seinem Kiefer und in seinem Herzen und in seiner Lunge wie weggeblasen war. Der Mord an Holt, ohne jede Hoffnung auf seine Wiederauferstehung in Jonah, hatte die schmerzliche Leere seiner eigenen Existenz gefüllt.
Nur ein Ungeheuer würde in blanker Zerstörung Befriedigung finden.
Er dachte von neuem an Selbstmord, doch nur flüchtig. Er dürstete noch immer nach dem, was Christus am Kreuz versprochen hatte. Er wollte in diesem Leben geheilt werden. Vergebung finden. Er wollte erlöst werden. Selbst wenn er alles dafür aufs Spiel setzen musste. Denn dann – und nur dann – konnte er in Frieden sterben.
2
31. März 2004
Chelsea, Massachusetts
Die New York Times brachte Jonahs Brief auf der Titelseite. Als Clevenger um neun Uhr vor seinem Büro hielt, erwartete ihn dort schon ein Heer von Reportern, die gierig ihre Mikrofone mit den Emblemen von CNN, Fox, MSNBC und Court TV gegen sein Wagenfenster reckten. Er schaute zu seinem Büro und nahm Augenkontakt mit North Anderson auf,der unbehaglich vor der Tür stand, die massigen Arme vor seiner Brust verschränkt, eine zusammengerollte Zeitung in der Faust.
Die Reporter umzingelten Clevenger, als er aus dem Pick-up stieg, rangelten um die besten Positionen und brüllten ihm Fragen entgegen: Stehen Sie in Verbindung mit dem FBI? Wie interpretieren Sie den Brief? Was halten Sie von seiner Behauptung, er habe dreihundert Geliebte gehabt? Werden Sie ihm antworten?
»Kein Kommentar«, antwortete Clevenger routinemäßig, während er sich einen Weg durch das Gedränge bahnte, die Stufen zu seinem Büro erklomm und ins Gebäude flüchtete. Anderson folgte ihm.
Anderson verriegelte die Tür hinter ihnen.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte Clevenger.
Anderson reichte ihm die Zeitung. »Die Times hat auf der Titelseite einen Brief vom Highwaykiller abgedruckt.«
Clevenger schüttelte den Kopf. »Und die alle sind hier
Weitere Kostenlose Bücher