Psychopath
jemand irgendwas, das er besprechen möchte?«, fragte Warner und schaute in die Runde.
Einige schüttelten den Kopf.
»Na schön«, sagte Warner.
»Was sollte das denn?«, fragte Clevenger McCormick auf dem Rückweg zu ihrem Büro.
»Mein Dad«, antwortete sie. »Dennis McCormick.«
»Der Dennis ...«, setzte Clevenger an, doch er biss sich auf die Zunge, als er sah, dass die Antwort ihr bereits ins Gesicht geschrieben stand. Es überraschte ihn, dass er die Verbindung nicht längst schon selbst gezogen hatte. Whitney McCormicks Vater war ein ehemaliger Top-FBI-Agent, der es zum Kongressabgeordneten gebracht hatte und jetzt an einflussreicher Stelle Spenden für politische Kampagnen eintrieb. Er war an der Aufklärung des Nightstalker-Falls und des Son-of-Sam-Falls beteiligt gewesen, bevor er das FBI verlassen hatte, um seine politische Karriere zu beginnen. In jüngerer Zeit war er überall im Land aktiv, um konservativen republikanischen Kandidaten in den Sattel zu helfen.
»Kane denkt, mein Vater habe die Macht, Entscheidungen des FBI zu beeinflussen. Er denkt außerdem, dass mein Vater mir meinen Job besorgt habe.«
Clevenger sagte nichts.
McCormick blieb stehen und drehte sich zu Clevenger um. »Machen Sie schon. Fragen Sie.«
»Okay«, sagte Clevenger und sah McCormick in die Augen. »Kann Ihr Vater Entscheidungen des FBI beeinflussen?«
»Keine Ahnung«, erwiderte sie.
»Klingt wie eine ehrliche Antwort.«
»Sie haben den harten Teil der Frage nicht gestellt.«
Clevenger zögerte.
»Sie verletzen schon nicht meine Gefühle.«
»Haben Sie Ihren Job Ihrem Vater zu verdanken?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Ihre Schultern schienen leicht zu sacken.
»Eine weitere ehrliche Antwort. Darf ich Ihnen jetzt die einzige Frage stellen, die wirklich zählt?«
McCormick nickte.
»Haben Sie Ihren Job verdient? Sie sind was, fünfunddreißig? Leitende forensische Psychiaterin des FBI? Sind Sie wirklich so gut?«
Ein neuer Ausdruck trat auf McCormicks Gesicht – eine Mischung aus amüsiertem Stolz und gnadenloser Entschlossenheit. Es beantwortete die Frage, ohne dass sie ein Wort sagen musste.
»Ich denke auch«, sagte Clevenger. »Ich habe mit den besten forensischen Psychiatern des Landes zusammengearbeitet. Sie können jedem Einzelnen von denen das Wasser reichen.«
Sie lächelte. »Bedeutet das, ich habe freie Hand, Ihren Brief an die Times zu redigieren?«
»Ganz sicher nicht.«
»Hatte ich auch nicht erwartet.«
4
Am Donnerstag, dem 3. April 2004, druckte die New York Times Clevengers Brief an den Highwaykiller wortgetreu ab, mit einer Versicherung von Clevenger, dass er nicht direkt mit dem FBI zusammenarbeite. Am 5. April erhielten sie die Antwort des Highwaykillers, geschickt per Federal Express vom Versandbriefkasten vor einem Bürogebäude in Rogers City, Michigan, am Huronsee, nahe dem Mackinaw State Forest:
Dr. Clevenger,
meine früheste Erinnerung (nur geringfügig abgewandelt, um zu verhindern, dass dem Gedächtnis anderer auf die Sprünge geholfen wird) ist eine Geburtstagsfeier, die meine Mutter für mich gegeben hat, als ich vier wurde. Sie fand in einem kleinen Park in der Nähe meines Zuhauses statt. Ein sonniger Tag im Mai. Grünes Gras. Blumen. Eine sanfte Brise. Eine Schaukel und eine Rutsche. Ein Klettergerüst.
Meine Mutter hatte ein Karussell mit bunt angemalten Holzpferden für mich und ein Dutzend Freunde gemietet. Sie tischte ein Festmahl aus Eiskrem, Zuckerwatte und Keksen auf. Es gab Spiele und Gewinne.
All das war ein ausgesprochener Luxus. Wir besaßen nicht viel.
Ich war glücklich an jenem Tag. Ich erinnere mich, dass ich von Stolz überwältigt wurde. Das war mein Geburtstag. Das waren meine Freunde. Sie feierten mich, schenkten mir Matchboxautos, Stofftiere, Bücher, Malfarben.Doch noch wichtiger als mein Geburtstag und meine Freude war für mich meine Mutter – hübsch, lebhaft, doch vor allem gütig und zärtlich. Während ich auf meinem Karussellpferd ritt, erhaschte ich flüchtige Eindrücke, wie sie lächelte, lachte, mir eine Kusshand zuwarf. Momentaufnahmen eines Engels. Sie gab mir an jenem Tag ein ganz besonderes Geschenk, das ich selbst jetzt noch bei mir trage, um mich daran zu erinnern, dass ich einst rein und verletzlich war – ein liebendes Kind, das keiner Seele ein Leid angetan hatte.
Meine Freunde und ich spielten stundenlang. Als ich schließlich mit meiner Mutter nach Hause ging, fühlte ich mich
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