Psychopath
lassen besser ihn entscheiden, wo er hinwill«, sagte er schließlich.
»Es ist schon hart, stimmt’s?«, bemerkte Anderson.
»Was?«
»Ein Kind so sehr zu lieben, wie du ihn liebst.«
Clevengers Kehle schnürte sich zusammen. »Wird es mit der Zeit leichter?«
»Immer nur härter und härter.«
»Klasse«, sagte Clevenger.
»Ja, das ist es«, bestätigte Anderson.
Clevenger schmunzelte. »Nochmals vielen Dank, North.«
»Bis bald.«
7
Später Nachmittag, 7. April 2004
Rock Springs, Wyoming
Jonah Wrens las Clevengers Brief zum fünften Mal, kurz vor einem Familientreffen mit den Eltern seines jüngsten Patienten, des neunjährigen Sam Garber. An jenem Morgen hatte er eine zweiwöchige Urlaubsvertretung für einen Psychiater im Rock Springs Medical Center am Fuß der Aspen Mountains begonnen. Doch er konnte sich nur mit Mühe auf seine Arbeitkonzentrieren. Der Brief hatte ihn erzürnt. Die Teile über Clevengers Leben waren durchaus interessant. Sein Geständnis, dass er sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte, seinen Vater umzubringen, klang ehrlich. Doch dann glitt der Brief in Selbstgerechtigkeit und glatte Manipulation ab.
Ich nehme meinen Schmerz an. Sie weigern sich, den Ihren zu akzeptieren. Sie beschreiben, dass Sie sich »mit Blut in Ihrem Mund« siegreich gefühlt hätten, weil Sie sich der Liebe Ihrer Mutter gewiss waren. Doch Ihr Triumphgefühl war nur ein Verteidigungsmechanismus gegen die tiefer liegenden Gefühle des Schreckens und der Schwäche. Als Vierjähriger haben Sie sich nie der grausamen Wahrheit gestellt, dass es Ihr Blut war, das in Ihren Mund lief, dass Sie machtlos waren, sich selbst zu verteidigen, und dass niemand sonst Sie beschützen wollte oder konnte.
Jetzt suchen Sie nach der ultimativen Macht über andere – lassen sie leben oder sterben –, als ob das Ihre Demütigung und Hilflosigkeit ausradieren könnte.
Sie sprechen davon, starke körperliche Schmerzen zu haben – Migräne, Kieferkrämpfe. Sie leiden unter schrecklichen Angstzuständen – Herzklopfen, Kurzatmigkeit. Doch ich bezweifle, dass Sie echte Traurigkeit oder Zorn empfinden. Denn das Schlimmste, was Sie als Kind durchgemacht haben, ist noch immer in Ihrem Unterbewusstsein verschlossen.
Welchem Trauma haben Sie sich bis jetzt nicht zu stellen gewagt, Gabriel? Welche verdrängte Wut ist explodiert, als Sie auf Paulette Bamberg trafen? Waswar es an dieser alten Frau (einer Frau im Alter Ihrer Mutter?), das Sie völlig die Kontrolle über sich verlieren ließ, sodass es nicht mehr genügte, die letzten Momente eines sterbenden Menschen mitzuerleben, sondern notwendig wurde, so brutal zu töten? So bestialisch. Und warum haben Sie ihr kein Blut abgenommen? Würde es Sie vergiften, Paulette Bamberg in sich zu haben?
Warum log Clevenger?, fragte sich Jonah. Welchen Grund konnte er haben, die Leiche, die Jonah an der Route 80 in Utah zurückgelassen hatte, so falsch darzustellen – die Leiche eines Mannes von mindestens siebzig, eines Mannes im Alter seines Vaters? Eines Mannes namens Paul. Eines Mannes, der still und friedlich in seinen Armen gestorben war, in keiner Weise grausamer als irgendeins der anderen Opfer des Highwaykillers. Was für eine mentale Falle versuchte Clevenger ihm zu stellen, indem er Jonahs Andenken an seine Mutter infrage stellte, eine Mutter, nach der er sich noch immer sehnte, von der er sich immer noch erträumte, sie eines Tages wiederzusehen? An dem Tag, an dem er wahrlich geheilt war. Warum ließ sich Clevenger zu so üblen Winkelzügen herab, zog ihre Beziehung in den Schmutz mit der Unterstellung, in Jonah habe sich irgendeine unterbewusste Wut angestaut, die sich gegen den einzigen Menschen richte, der ihn je wirklich geliebt hatte, den einzigen Menschen, den er je wirklich geliebt hatte?
Der Rest des Briefes trieb Jonahs Puls noch mehr in die Höhe. Er biss die Zähne zusammen. Denn er erkannte den Köder, den Clevenger für die Leser der Times ausgelegt hatte, seinen nicht sonderlich subtilen Versuch, ihn zu fassen, indem er die Erinnerungen der gütigen und wohl meinenden Leute, die er befreit hatte, zu wecken versuchte, um auch sie in Jäger zu verwandeln:
Oder bestand Paulette Bambergs einzige Sünde darin, dass Sie dem Highwaykiller gegenüber reserviert blieb, ihre Distanz wahrte und nie die außergewöhnliche und unmittelbare Intimität erlebte, die Sie, wie ich glaube, in anderen wachrufen, sodass sie ihre Herzen ausschütten, wie
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