Psychopath
aber vielleicht stimmt es ja, was er ihr gesagt hat. Vielleicht braucht er ein bisschen Zeit, um die Dinge zu durchdenken, um Vernunft anzunehmen.«
»Er braucht einen Entzug«, gab Clevenger zurück.
»Vielleicht ist es ja seine Methode, clean zu werden. Wer weiß? Vielleicht tun ihm ein paar Tage ganz gut.«
»Und was soll ich jetzt machen? Einfach abwarten?«
»Manchmal ist es das Einzige, was man tun kann. Zumindest ist es das Einzige, was ich bei meiner Kristy tun kann. Sie ist noch zu jung, um einfach in einen Zug zu steigen, aber sie war mehr als einmal gänzlich unerreichbar für mich. Das kann passieren, wenn sie nur am anderen Ende des Flurs sind.«
Clevenger atmete tief durch. »Gibt es Telefon da oben?«
»Nicht in der Hütte. Es gibt auch keine Heizung. Aber einen Holzofen, und auf der Veranda ist ein halber Klafter Scheite aufgestapelt.«
»Warum lassen wir nicht mal einen Streifenwagen vorbeifahren, nur um zu sehen, dass er gut angekommen ist?«
»Ich werd mich darum kümmern.«
»Sag mir Bescheid, falls ...«, setzte Clevenger an.
»Falls kein Licht brennt oder kein Rauch aus dem Schornstein kommt, werd ich dich anrufen«, schnitt ihm Anderson das Wort ab. »Ansonsten sieh zu, dass du ‘ne Mütze voll Schlaf bekommst.«
»Werde ich machen. Danke.«
Früher Morgen, 7. April 2004
Er schlief insgesamt vielleicht eine Stunde, nickte immer mal für fünf oder zehn Minuten ein, wachte wieder auf und horchte in die Stille des Lofts in der Hoffnung, eine Tür zuschlagen oder die Dusche rauschen oder Billys Schritte auf dem Fußboden zu hören. Doch er hörte nichts.
Um sechs Uhr zwanzig war er endgültig wach, da ihm einfiel, dass er sich die New York Times ins Haus bestellt hatte, und er holte sie herein. Er setzte sich auf die Couch und las seine Antwort auf den letzten Brief des Highwaykillers, die wieder auf der Titelseite abgedruckt war. Er stellte sich vor, wie der Mörder sie just in diesem Moment ebenfalls las – in einer Raststätte oder auf einem Rastplatz oder bei einem gemütlichen Frühstück aus Spiegeleiern und Speck in irgendeiner Imbissstube, die vielleicht nur eine halbe Meile von der Stelle entfernt war, wo er eine weitere Leiche zurückgelassen hatte. Und Clevenger wurde übel. Denn er stellte sich vor, diese Leiche wäre Billy. Und er fragte sich, ob ihn zu verlierendie Antwort an Josh Resnek vom Chelsea Independent ändern würde – dass es ihm nur darum ging, den Highwaykiller zu heilen, dass es Sache des FBI sei, ihn zu fassen. Er fragte sich, wie gut sein Mitgefühl den Mord an seinem Sohn überstehen würde.
Aber es wurde gar nicht erwartet, dass es das tat, oder? Deshalb gab es ja überhaupt Geschworene und Richter und das ganze Justizsystem – als Puffer für die verständlichen Rachegelüste der Hinterbliebenen. Denn wenn Recht und Gesetz den Opfern überlassen würden, gäbe es hundertmal so viele Galgen wie Gefängnisse.
Zusammen als Gesellschaft können wir anstreben, wie Christus oder Gandhi zu handeln. Auf sich allein gestellt, würden die meisten von uns eher dem Terminator nacheifern.
Das Telefon klingelte. Es war wieder North Anderson. Clevenger meldete sich.
»Ich glaube, er könnte wieder auf dem Weg zurück zu dir sein«, sagte Anderson.
Clevenger sah an die Decke, schloss seine Augen und dankte Gott. »Woher weißt du das?«, fragte er.
»Nachdem die Polizei von Burlington mir gesagt hat, dass eindeutig jemand in der Hütte ist, bin ich hingefahren«, erklärte Anderson. »Nur um sicherzustellen, dass er auch heil und gesund bleibt.«
»Du bist nach Vermont gefahren? Mitten in der Nacht? Und mir hast du gesagt, ich solle abwarten.«
»Du kannst ihn ja auch nicht beschatten. Du bist sein Vater.« Er kicherte. »Jedenfalls, er ist inzwischen aufgestanden und angezogen und zu Fuß auf dem Weg zum Bahnhof. Vielleicht ist das rustikale Leben nicht nach seinem Geschmack. Er wird wahrscheinlich wieder deine Kreditkarte benutzen. Ich werd ein Auge darauf halten. Nur für den Fall, dass er sich entscheidet, einen kleinen Umweg zu machen.«
»Vielleicht solltest du ihn besser einfach aufsammeln und nach Hause bringen.«
»Wenn du das willst«, sagte Anderson. »Die Entscheidung liegt bei dir.«
Clevenger ließ es sich durch den Kopf gehen – wie viel besser er sich für den Moment fühlen würde, was Billy anging, und wie unausweichlich alles schon am nächsten Tag oder nächste Woche wieder beim Alten sein würde. »Ich schätze, wir
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