Psychopath
wünschen.«
Jonah schwieg.
»Wir waren siebenunddreißig Jahre verheiratet«, sagte Ellison. »Ein Paar waren wir einundvierzig Jahre. Ich kann mich nicht beklagen.«
Jonah nickte, doch er wusste, dass die bloße Äußerung einer solchen Leugnung bedeutete, dass er viel beklagte, allem voran die Sterblichkeit selbst, jene entsetzliche Tatsache, dass unser Leben und das der Menschen, die wir lieben, nicht ewig währt und erschreckend zerbrechlich ist, dass jeder von uns ohne Vorwarnung sein Leben aushauchen kann, dass wir, wenn wir jemanden lieben, in jedem einzelnen Moment unendlich verletzlich sind.
Der Gedanke entführte Jonah aus Ellisons Büro direkt zu Anna Beckwiths Mutter, wie sie ans Telefon ging und der State Trooper am anderen Ende der Leitung ansetzte, ihr schlechte Nachrichten zu überbringen. Unvorstellbare Nachrichten. Eine Tochter, die ermordet neben ihrem Auto in einem Wald am Highway gefunden worden war. Jonah stellte sich vor, er würde Mrs. Beckwith im Arm halten, während sie schluchzte. Er streichelte ihr Haar. Er flüsterte ihr ins Ohr: »Anna ist nicht wirklich tot. Ein Teil von ihr lebt weiter. In mir.«
»Dr. Wrens?«, fragte Ellison und beugte sich leicht in seinem Schreibtischsessel vor.
»Ja«, sagte Jonah.
Ellison spähte wieder über den Rand seiner Halbbrille. »Waren Sie für einen Moment ganz woanders?«
»Ich habe mir nur vorgestellt, wie es sein muss, einundvierzig Jahre lang mit derselben Frau zusammen zu sein. Sie müssen sie sehr geliebt haben.«
Ellison räusperte sich und lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück. »Sie waren nie verheiratet?«
Jonah hatte Anna Beckwith genau die gleiche Frage gestellt. Sie waren nie verheiratet? Er musterte Ellison argwöhnisch und fragte sich, ob der freundliche Doktor ihm vielleicht zu verstehen geben wollte, dass er über das Blutbad, das Jonah angerichtet hatte, Bescheid wusste. Aber das war unmöglich, und Jonah tat seine Befürchtung als das mentale Echo eines schuldbewussten Gewissens ab. Denn er fühlte sich schuldig – mehr und mehr mit jedem Leben, das er nahm. »Ich war für kurze Zeit verheiratet«, sagte er. »Ich war jung.«
»Waren wir das nicht alle«, erwiderte Ellison. »Sie waren noch nicht bereit, eine solche Bindung einzugehen?«
Jonah schüttelte den Kopf. »Ich war bereit.«
»Aber sie war es nicht«, sagte Ellison.
Jonah senkte seinen Blick und zupfte nervös an seinem rechten Hosenbein, dann sah er wieder zu Ellison. »Sie ist gestorben«, sagte er und wählte absichtlich härtere Worte als Ellisons »Sie ist verschieden«.
Ellisons Miene erstarrte.
»Wo wir schon davon sprechen«, sagte Jonah, »und ich vertraue darauf, dass es unter uns bleibt – ich kann nachempfinden, was Sie durchgemacht haben. Ich habe das Gleiche durchgemacht.«
»Es tut mir wirklich Leid«, sagte Ellison und runzelte die Augenbrauen. »Was ich gesagt habe, muss geklungen haben ...«
»Wie die Wahrheit«, fiel ihm Jonah ins Wort. »Nur jemand, der durchgemacht hat, was wir durchgemacht haben, kann es je verstehen.«
Ellison nickte.
»Ihr Name war Anna«, sagte Jonah, und sein Blick wanderte gedankenverloren zu einer Ecke von Ellisons Schreibtisch. »Wir haben uns bei einem Tanzfest auf dem Mount Holyoke College in Massachusetts kennen gelernt.« Er schloss einen Moment lang seine Augen, dann schlug er sie wieder auf und lächelte, als würde ihm eine glückliche Erinnerung Trost spenden. »Sie hatte sich für ein Frauencollege entschieden, weil sie schüchtern war – praktisch schon krankhaft schüchtern. Sie hatte zwei ältere Brüder, die sie immerzu geneckt haben. Richtig schlimm geworden ist es, als sie so um die elf war, genau zum richtigen Zeitpunkt, um den größtmöglichen psychosexuellen Schaden anzurichten. Aber sie hat sich sehr herausgemacht, nachdem wir uns verlobt hatten. Ist in jeder Hinsicht aufgeblüht. Sie schien diese Art von Sicherheit zu brauchen.« Er sah abermals Ellison an. »Sicherheit«, wiederholte er kopfschüttelnd. »Sie war dreiundzwanzig, als sie starb.«
»Mein Gott«, sagte Ellison. Er schwieg einen Moment lang. »Darf ich fragen, woran sie gestorben ist?«
Jonah wusste, dass eine Frau, die im Alter von Ellisons Ehefrau Elisabeth starb, höchstwahrscheinlich Krebs zum Opfer gefallen war. Eine Herzerkrankung kam ebenfalls in Frage. Ein Autounfall war natürlich immer eine Möglichkeit. »Anna ist an Krebs gestorben«, traf er seine Wahl. Er war in der Stimmung, die Grenzen seiner
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