Psychopathen
Zeit der Abfassung dieses Buches mit zehn Morden in einem Zeitraum von fünfzehn Jahren in Verbindung gebracht wurde.
Wie vielen Menschen Henry Lee Lucas tatsächlich das Leben genommen hat, werden wir nie wissen.
Die Weite des Landes, der Mangel an Zeugen, die Tatsache, dass jeder Staat sein eigenes Rechtssystem hat und dass Opfer und Täter sich oft einfach nur »auf der Durchreise befinden«, lassen die Sache für die Ermittlungsbehörden zu einem logistischen, statistischen Alptraum werden.
Ich frage einen FBI-Spezialagenten, ob Psychopathen seiner Meinung nach für bestimmte Berufe besonders geeignet sind.
Er schüttelt den Kopf.
»Na ja, sie geben definitiv gute Lastwagenfahrer ab«, meint er schmunzelnd. »Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ein Lastwagen hier in den USA wahrscheinlich der wichtigste Ausrüstungsgegenstand für einen Serienmörder ist. Er hilft ihm, seine Arbeit zu erledigen, und ist gleichzeitig ein Fluchtfahrzeug.«
Der betreffende Agent gehört zu einem FBI-Team, das für die Highway Serial Killings Initiative verantwortlich ist, ein Projekt, das den Datenfluss innerhalb Amerikas komplexem Mosaik autonomer Gerichtsbarkeiten erleichtern und das öffentliche Bewusstsein für die Morde erhöhen will.
Die Initiative wurde beinahe zufällig ins Leben gerufen. 2004 entdeckte ein Analyst des Oklahoma State Bureau of Investigation ein Muster. Entlang dem Interstate 40, der durch Oklahoma, Texas, Arkansas und Mississippi führt, waren in regelmäßigen Abständen die Leichen von Frauen gefunden worden. Daraufhin überprüften Analysten, die am Violent Criminal Apprehension Program (ViCAP) arbeiteten – einem nationalen Programm, das Daten zu Morden, sexuellen Übergriffen, Vermissten und nicht identifizierten menschlichen Überresten erfasst–, ihre Datenbank, um zu sehen, ob andernorts ähnliche Muster von Highway-Morden existierten.
Das war tatsächlich der Fall.
Bislang ist man bei den Ermittlungen bei über 500 Mordopfern entlang oder in der Nähe von Highways angelangt und auf rund 200 potenzielle Verdächtige gestoßen.
»Psychopathen sind Nachtgestalten. Sie überleben«, sagt mir der Agent, hinter dem eine mit Zeitachsen, Knotenpunkten und mörderischen dunkelroten Kurven übersäte Karte der USA an der Wand hängt, »indem sie umherziehen. Sie haben nicht dasselbe Bedürfnis nach engen Beziehungen wie normale Menschen. Und so sind sie ständig unterwegs, sodass die Chance, ihren Opfern nochmal über den Weg zu laufen, gering ist.
Aber sie können auch ihren Charme spielen lassen. Was es ihnen zumindest kurz- oder mittelfristig ermöglicht, lange genug an einem Ort zu bleiben, um Argwohn auszuräumen – und Beziehungen zu ihren Opfern zu knüpfen. Dieses außergewöhnliche Charisma – das in manchen Fällen ans Übernatürliche grenzt: Obwohl du weißt, dass sie eiskalt sind und dich auf der Stelle umbringen würden, kannst du manchmal nicht anders, als sie zu mögen – fungiert als eine Art psychologischer Deckmantel, der ihre wahren Absichten verhüllt.
Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass man im Allgemeinen mehr Psychopathen in städtischen als in ländlichen Gebieten findet. In einer Stadt ist es leicht, anonym zu bleiben. Aber versuchen Sie mal, in einer landwirtschaftlichen Gemeinde oder einer Bergbaugemeinde mit der Menge zu verschmelzen. Das dürfte schwierig sein.
Leider sind die Wörter ›Psychopath‹ und ›Herumtreiber‹ fast austauschbar. Und das macht den Strafverfolgungsbehörden große Kopfschmerzen. Denn genau das macht unseren Job manchmal so verdammt schwierig.«
Was die Motte uns lehrt
Peter Jonason, der Vertreter der »James Bond«-Psychologie, hat folgende Theorie zu Psychopathen: Andere auszubeuten ist ein hoch riskantes Unterfangen, sagt er. Das oft scheitert. Die Menschen nehmen sich vor Halsabschneidern und Ganoven nicht nur in Acht, sie reagieren normalerweise auch negativ auf sie: mit rechtmäßigen oder auch unrechtmäßigen Mitteln. Wenn man vorhat, andere zu betrügen, fällt es einem leichter, mit Ablehnung umzugehen, so Jonason, wenn man extrovertiert und charmant ist und ein hohes Selbstwertgefühl hat. Und auch leichter, weiterzuziehen.
Bond war natürlich immer unterwegs. Bei einem Spion gehört das einfach dazu. Dasselbe gilt für den Autobahn-Serienmörder oder für die Wandermönche früherer Zeiten. Doch obwohl diese drei ganz unterschiedliche Gründe für ihre Reisen haben und ganz unterschiedliche Positionen
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