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Psychotherapeuten im Visier

Psychotherapeuten im Visier

Titel: Psychotherapeuten im Visier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Reiners
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als Fehlschaltung unseres Gehirns all den beschriebenen Phänomenen vergleichbar. Aber seine Vorgeschichte ist eine andere. Dem Todeswunsch, scheinbar out of the blue , geht immer eine Krankheitsgeschichte voraus: das Leiden an der Depression. Nur um diese Facette des Spontansuizids soll es hier gehen. Der Spontansuizid kündigt sich natürlich nicht an, es ist ja kein schleichender Todeswunsch, er ist nicht absehbar und in der Rückbetrachtung stets unerklärlich. Warum gerade jetzt, warum gerade in dieser Lebenssituation, die doch endlich wieder stabil schien? Der Mann, der die gerade heiter bei seinem Psychiater in der Klinik verbrachte Therapie beendet hatte, erschießt sich im nächsten Moment auf dem Parkplatz des Universitätsgeländes. Eigentlich war er mit Freunden zur Jagd verabredet. Warum dann diese Spontanentscheidung? Hatte die Waffe ihn verführt? Oder die Frau, eine strahlende Erscheinung, engagiert, klug, in der Mitte ihres Lebens, ein Leben, das nach außen glücklicher nicht sein konnte, sucht abends, von niemandem der Familie bemerkt, die Erlösung im Ertrinken gerade in dem bayerischen See, auf den sie immer so gern aus ihrem schönen Haus geschaut hatte, der ihr ganzes Glück gewesen war, ebenso wie das der Familie. Vier Tage später wurde sie am gegenüberliegenden Ufer angespült. Auch dies ein für alle unfassbarer Spontansuizid.
    Beide waren sie krank, beide waren in psychiatrischer Behandlung.
    Nur wer die Tücken der Depression selbst erlebt hat, weiß um diesen zerstörerischen Blitzgedanken des spontanen Todeswunsches, der stärker ist als jede Sucht. Der Todeswunsch hat ein Eigenleben, er ist nicht Teil des eigenen Hauses, unseres
Gehirns. Ist er mit einem Blitzeinschlag vergleichbar? Nein, ein Gewitter kündigt sich an. Vor dem Spontansuizid dagegen gibt es weder dunkle Wolken noch schwache Blitze in der Ferne. Es gibt nur diesen alles zerstörenden Stromschlag, der uns entweder bei einem Kurzschluss todbringend festhält oder eine so gewaltige Rückschlagskraft entwickelt, dass wir – nur zu oft mit körperlichen Blessuren – ins Leben zurückgeworfen werden. Beides habe ich erlebt, beide Facetten kenne ich. Den spontanen Todeswunsch habe ich nur ein einziges Mal erlebt: als es mir besonders gut ging, vor gar nicht langer Zeit, zu Weihnachten, aber das kann Zufall sein.
    Jetzt weiß ich um das Phänomen eines solchen Blitzschlages. Wer stets gesund war, kann davon nichts wissen. Auch Therapeuten nicht. Es gleicht einer Magie oder einem Magneten, der unweigerlich den eisernen Nagel anzieht. Unser Gehirn kann ein solcher Magnet sein. Wer sich als Therapeut mit Depressionen und ihrer Therapie beschäftigt, sollte darum wissen. Ich verstehe diesen Satz nicht als Vorwurf oder gar Anklage, vielmehr als Anregung, dem Wunsch des Spontansuizids ganz nüchtern zu begegnen. Jeder Kapitän weiß um die existenziellen Nöte seekranker Passagiere und wird alles tun, seine Mannschaft darauf vorzubereiten, auf die todessüchtigen Seekranken an der Reling besonders zu achten.
    Im Falle des spontanen Wunsches nach dem schnellen Jetzt-Tod gibt es nur Eines: das Wissen um die Fehlschaltung unseres Gehirns in nicht kalkulierbaren Situationen. Aber gibt es die im Krankheitsfalle nicht überall und oft? Nach der kürzlich zum ersten Mal erlebten Erfahrung einer solchen Fehlschaltung weiß ich um die Gefahr – ich sehe sie ganz nüchtern. Daher wünsche ich mir, dass Therapeuten so früh wie möglich in der Therapie eines Depressionskranken auch auf dieses Phänomen hinweisen. Wer um die Gefahr eines
Stromschlages weiß, fasst auch nicht offen daliegende Leitungen an, wer auch nur den geringsten Wunsch verspürt, nicht mehr leben zu wollen, ist nicht nur suizidgefährdet, nein, besonders später, wenn die Depression abklingt, kann es die Blitzeinschläge des Spontansuizides geben.
    Blitzableiter, gibt es die? Ja, es gibt sie. Und wie heißt das Isoliermaterial? Ich weiß kein Rezept. Aber jetzt, nach dieser glücklich verlaufenden Attacke des Angriffs auf mein Leben durch den Gedanken an den Spontansuizid, spüre ich eine große Kraft, dem nächsten Anschlag widerstehen zu können. Genau so, wie ich noch immer von starken Schlägen der Depression getroffen werde. Die können mir nichts mehr anhaben, ich bin gewappnet. Diesen Part der Depressionskontrolle und der absoluten Lebenssehnsucht werde ich mir nie wieder nehmen lassen.
    Die Depression ist bissig – auch Menschen beißen manchmal unkontrolliert

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