Psychotherapeuten im Visier
Chance vertan, den zu allem Entschlossenen von seinem Vorhaben abzubringen.
Wie in jeder guten, wirklich ernsthaften Diskussion muss das Gesprächsergebnis offen sein, die Beteiligten tragen ihren Standpunkt vor und langsam schält sich im Für und Wider eine erste Wahrheit heraus. Dem Ergebnis muss nicht jeder unbedingt zustimmen, aber auch der nicht anerkannten Meinung muss mit intellektuellem Respekt begegnet werden. Es ist dieser Respekt, nach dem sich ein Mensch in seelischer Not so sehr sehnt. Er wünscht sich, seine Argumente für den beabsichtigten Suizid darlegen zu können, hofft auf ein erstes Verständnis, um dann auch das Gegenargument für das Leben gelten zu lassen. Natürlich ist ein solches Gespräch kein amüsanter Spaziergang, aber wenn der Kranke das Verständnis spürt, die Empathie, dann lässt er sich auch intellektuell auf ein wirkliches Zwiegespräch locken. Es gilt also, jedwede Pathosformel in einem solchen Dialog zu vermeiden, vielmehr ist absolute Offenheit das Geheimnis für einen Überzeugungserfolg.
Neben dem Respekt für eine so endgültige Entscheidung dem Leben gegenüber gibt es einen zweiten Gedanken, der viel zu wenig Beachtung findet: der für den Gesunden nicht vorstellbare Mut, wirklich aus dem Leben gehen zu wollen. Die Pille für den schnellen Tod gibt es nicht im Automaten zu kaufen, auch der Arzt verschreibt sie nicht – er darf es nicht. Ohnehin ist Sterbehilfe im Falle der Depression strafbar, anders als bei körperlich Schwerstkranken. Die Verzweiflung, die der Suizident in seinem Entscheidungsprozess verspürt, kann nur verstehen, wer selbst einmal auf der Kippe des
Lebens zum Tod gestanden hat. Wer kann sonst ermessen, was es bedeutet, sich den Tod zu geben? Die Formulierung »Hand an sich legen« verharmlost den letzten Schritt, ist also nichts anderes als eine beschönigende Wortfindung. Die Realität sieht anders aus: Gewalt, Gewalt gegen sich selbst. Der Strafvollzug in Europa sah über Jahrhunderte die Gewalt als besondere Form der Qual, der Demütigung und der Rache an. Es wurde gevierteilt, bei lebendigem Leib verbrannt, gefoltert und geköpft. Die Facetten der Grausamkeiten kannten keine Grenzen. In Asien waren sie anders als im alten Europa, in Amerika anders als im Orient, aber in der Faszination der Gewaltanwendung gegen den Delinquenten war sich die Welt über die kulturellen Grenzen hinweg einig.
Genau diesem Szenario der Gewalt sieht sich der zum Tod Entschlossene gegenüber. Er muss sich gewaltsam töten, so wie er einen anderen Menschen würde töten wollen, die Waffen sind die gleichen. Ich muss sie hier nicht aufzählen.
Von daher gilt mein allergrößter Respekt denen, die sich qualvoll – oft über Wochen und Monate – dem Wie der Selbsttötung gedanklich aussetzen. Denselben Respekt und dieselbe Achtung empfinde ich gegenüber jenen, die den Suizid vollbracht haben, weil ich weiß, welches Martyrium sie durchlitten haben – bis zur suizidalen Handlung selbst. Dieser Respekt ist unverzichtbar, wenn wir dem Entschlossenen die Würde bewahren wollen, nach der er sich so sehr gesehnt hat.
Und doch heißt meine Bitte: Möge die Respektsbezeugung dem Suizidenten gegenüber nie eingefordert werden, möge vielmehr die Kraft der Überzeugung, der Empathie und des unbedingten Verständnisses die Oberhand behalten, dass sich der absichtsvolle Suizident am Ende doch für das Leben entscheidet. Sein Leben hängt in dieser kritischen Situation an dem sprichwörtlichen seidenen Faden. Ein guter Therapeut
weiß um die Tragfähigkeit eines solchen Fadens, ein weniger guter mag ihn zerreißen lassen. Die Würde eines seelisch kranken Menschen ist stets höher zu bewerten als jede dogmatische Haltung, die in den Lehrbüchern der Therapeutenausbildung steht. Ich könnte auch sagen: Nur wer die Menschen wirklich liebt, sollte Psychotherapeut werden. Und: Er muss sein krankes Gegenüber mehr lieben als sich selbst. Darin liegt die besondere Qualität eines Therapeuten – der seelisch Kranke spürt in der Rolle des Patienten ein solches Menschenverständnis innerhalb der ersten Sekunde der Begegnung.
Der Maßstab meiner Beurteilung eines guten Therapeuten mag sehr hoch angelegt erscheinen. Erwarten wir diesen Qualitätsmaßstab nicht ganz selbstverständlich von einem Chirurgen, dem wir uns bei einer lebensbedrohenden Tumoroperation anvertrauen? Warum sollen bei Krebs der Seele, wie ich die Depression nenne, andere Maßstäbe gelten? Die seinem
Weitere Kostenlose Bücher