Psychotherapeuten im Visier
gewirkt. Auch wenn ich nicht das Geringste von der Operation mitbekommen habe, so ist diese Erinnerung doch fester Bestandteil meines Lebens und ganz offensichtlich nicht löschbar – also auch nicht therapierbar. Dasselbe gilt für einen Traum, der immer an derselben Stelle endet und mich jedes Mal zutiefst erschüttert: Ich muss die Lateinprüfung im Abitur noch einmal machen und weiß, dass ich vielleicht nichts, zumindest aber zu wenig weiß.
Kurz bevor ich in den Prüfungsraum gerufen werde, wache ich verwirrt aus: Ist das jetzt Traum oder Realität?
Ein Schulfreund von mir wird immer wieder von einem ähnlichen Traum verfolgt: Er macht die Post auf und wird in einem amtlichen Brief aufgefordert, sich ab sofort alle fünf Jahre zur Wiederholung der Abiturprüfung anzumelden. Er ist heute Professor und anerkannter Forscher, tat sich aber während der Ausbildung mit Prüfungen immer schwer. Ich dagegen hatte mit dem Fach Latein nie Probleme und werde trotzdem im Traum immer wieder von Versagensängsten in gerade diesem Fach heimgesucht. Viele andere wären da wesentlich passender.
Bei wichtigen Veranstaltungen im Mannschaftssport wird schon Tage vor Spielbeginn in der Presse kolportiert, dass die Spieler psychologisch perfekt betreut werden, hoch motiviert seien und unerschütterlich den Sieg vor Augen haben. Wenn dann aber in den ersten Minuten vor der Halbzeit der Gegner in Führung liegt, kann dieses soeben noch hochgelobte psychologische Konzept vollkommen zusammenbrechen. Auch eine Intensivbetreuung in der Halbzeitpause hilft dann meist nicht weiter. Ja, so wenig verlässlich ist die Psychotherapie – vor allem in Ausnahmesituationen. Unter dem Druck der Ereignisse versagt sie kläglich, zumindest im Sport.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache, dass Menschen, die gerade ein traumatisches Erlebnis hatten – Zugunglück, Busunfall, Massenpanik mit Verletzten in einem Stadion –, immer häufiger bei den Einsatzkräften von Polizei und Feuerwehr sagen: Bitte keinen Psychologen!
Es ist für mich als Erfahrung faszinierend, dass meine Elterngeneration so wenig von ihren Kriegserlebnissen erzählt hat. Während meine Mutter bei einem Bombenangriff im Luftschutzkeller saß, traf eine Fliegerbombe das Nachbarhaus.
Alle Menschen, die dort im Keller Schutz gesucht hatten, starben. Der Vorgang wurde irgendwann in meiner Jugend einmal erzählt, aber nur in knappen Andeutungen. Auch mein Vater und mein Onkel, die beide Soldaten waren, haben nie vom Krieg berichtet. Einmal habe ich meinen Onkel in der Badehose gesehen und ihn nach den tiefen Löchern in seinem linken Bein befragt. Die knappe Antwort war, dass es Durchschüsse waren, Fleischwunden. Damit war die Geschichte für ihn zu Ende. Auch nach dem Ersten Weltkrieg ist es vielen Kriegsteilnehmern und Opfern so ergangen. Sie haben diesen Teil ihres Lebens vor anderen und vor sich selbst verschlossen. Ein Aufarbeiten im Sinne einer seelischen Entlastung gab es nicht und sollte es auch nicht geben. In der Nachkriegszeit wurde natürlich auch viel verschwiegen, aber das war dann ein bewusstes Vertuschen und nicht ein ganz persönliches Verarbeiten – es war vielmehr ein Vergessen-Wollen, aber das ist kaum einem wirklich gelungen. Irgendwann holen einen die Erlebnisse wieder – manchmal kurz vor dem Tod.
Es gibt einen weiteren Aspekt, bei dem das sogenannte Aufarbeiten oder gar ein bewusstes Noch-einmal-Erleben, zur Falle gerät. Weil der Ausbruch der Depression häufig so unerklärlich ist, während er bei manchen Menschen geradezu zwingend erfolgen müsste, suchen die Betroffenen nach Gründen, und weil die noch immer nicht eindeutig auszumachen sind, gerät diese Ursachenermittlung häufig auf die schiefe Bahn der Schuldzuweisung. Da bieten sich zuerst einmal die Eltern an, dann die Geschwister und die Großeltern, Lehrer, Institutionen oder sportliche Misserfolge. Auch wenn gewisse Lebensereignisse oder Begegnungen verstörend gewesen sein mögen – auch über lange Zeit –, so ist dennoch keineswegs erwiesen, dass sie auch zwingend für das
Entstehen der Depression verantwortlich gemacht werden können. Der vermeintliche Blitzableiter einer Schuldzuweisung hat dann häufig zur Folge, dass der Betroffene in eine Agonie fällt, aus der er meint, sich nicht selbst befreien zu können, steht er doch unter dem Bann einer nicht aufzubrechenden Macht. Es geht aber in der Depression nicht darum, Schuld aufzudecken, um sich in der eigenen
Weitere Kostenlose Bücher