Psychotherapeuten im Visier
und unverständlich um sich. Die meisten sind dabei vollkommen gesund!
Aber werden die Kranken auf gerade dieses Phänomen des spontanen Todeswunsches vorbereitet? Jeder Krebskranke wird irgendwann im Rahmen seiner chirurgischen Behandlung auf die Folgen der nächsten Schritte behutsam eingestimmt: Strahlentherapie, mögliche Einschnitte in der Lebensqualität, vor allem aber durch die Botschaft, dass die Ärzte alles tun werden, dass der Patient genesen wird. Sie werden ihm aber auch sehr deutlich machen, dass auch der geschwächte Patient nach der Operation aufgefordert ist, jetzt seinen eigenen Teil für den Behandlungserfolg beizutragen. Krankheit ist kein negatives Konsumgeschehen, Krankheit heißt auch immer innezuhalten und sich aktiv des Geschenkes Leben zu vergewissern.
Ich bin kein Moralapostel. Immer wenn es gerade wieder
einmal gut gegangen ist, habe ich kurz innegehalten, gute Vorsätze getroffen und mir auferlegt: Das soll nie wieder passieren, gehe besser mit dir um, fordere das Schicksal nicht noch einmal heraus. Ja, das wäre klug.
Bei einem spontanen Todeswunsch hoffe ich, dass ich die gemachte Erfahrung erinnere, sie beherzige. Der Suizidgedanke ist mir ja nicht fremd, aber es gab zwischen Denken und Handeln immer eine zeitlich lange Spanne, ein Überlegen, Abwägen und die Frage nach dem Warum. Und ich weiß genau, wann meine Seele wieder einmal einen Stützverband braucht und dass ich ihn auch schon bald werde wieder ablegen können.
Der Spontansuizid ist ganz anders. Er trifft vollkommen unvorbereitet – es sei denn, dass der Therapeut seinen Patienten genau auf dieses schicksalhafte Phänomen vorbereitet und er es ihm in aller drastischen Offenheit sagt: Achtung, wie es das Rezidiv beim Krebs gibt, so konfrontiert Sie möglicherweise auch die Depression mit dem Rezidiv der Todessehnsucht. Der Unterschied dabei ist gering, aber beim Krebs haben die Patienten Zeit, noch einmal über alles nachzudenken: die anstehende Behandlung, die Lebenschancen, die Nebenwirkungen.
Genau darauf muss auch der an Depressionen leidende oder schon von der Krankheit befreite Patient vorbereitet werden und er muss um das temporär verführerische Rezidiv des spontanen Suizidwunsches wissen.
Machen wir uns nichts vor: Wir kommen mit der unabwendbaren Gewissheit auf die Welt, irgendwann sterben zu müssen. Natürlich denken wir nicht jeden Tag an unser Ende, es würde uns jedwede Lebenskraft und Freude rauben. Ab einem gewissen Alter aber wissen wir, dass die Zeit des verschwenderischen Umganges mit der Lebenszeit nicht klug
ist, sie zerrinnt uns plötzlich spürbar zwischen den Fingern. Dann fassen wir wieder einmal gute Vorsätze, wir beschleunigen unser Tempo, um irgendwann doch wieder in den gewohnten Lebenstrott zurückzufallen.
Von Luther ist überliefert, dass er auf die Frage, was er tun würde, wenn er nur noch einen Tag zu leben hätte, geantwortet haben soll: einen Baum pflanzen. Welche Gelassenheit! Keine Angst, keine Panik, keine unüberlegte Hektik – es einfach geschehen lassen. Nun gibt es zwischen einem solchen Gedankenspiel und der realen Bedrohung durch den nahen Tod sehr große Unterschiede, aber wünschten wir uns nicht alle eine solche Gelassenheit?
Wer dem Impuls zum Spontansuizid folgt, hat für einen kurzen Moment die Kontrolle über sein Leben verloren – so wie der Autofahrer unvorbereitet bei Blitzeis hilflos in den Graben rutscht. Die Folgen von Blitzeis kennt jeder Autofahrer, mit etwas Erfahrung auch schon als Fußgänger oder Radfahrer. Irgendwann gewinnt die Vorsicht etwas Instinktives, die instinktive Gefahrenabwehr wird zum Lebensprinzip.
Einen Lernerfolg über viele Jahre schenkt uns die Natur im Falle der Depression und des mit der Krankheit verbundenen Wunsches nach einem spontanen Ende nicht: Jetzt sterben – dieser Impuls ist übermächtig. Aber wer um diesen zerstörerischen Impuls weiß, wer darauf vorbereitet ist, dass unser Gehirn uns zu einem nicht vorhersehbaren Zeitpunkt mit dem Todesimpuls zu täuschen vermag, der ist zumindest gewarnt. Wer einen starken Krampf im Bein verspürt, denkt nicht zuerst an einen Schlaganfall – instinktiv nicht. Wer aber eine Depression durchlebt hat, muss auf die Gefahr einer nicht umkehrbaren Spontanentscheidung vorbereitet werden. Diese Aufklärungsarbeit kann nur der Therapeut leisten.
Er wird es aber nur schaffen, wenn er über die Magie einer dem Leben zugewandten Autorität verfügt.
Wer die Fürsorgeverantwortung zu
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